Swetlana Alexiewitsch: „Wir haben es mit russischem Faschismus zu tun und Belarus steht unter Besatzung“

Die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Swetlana Alexiewitsch sprach mit dem Kanal „FreeDom“ über den Krieg, ihr neues Buch und ihre Gespräche mit „Putinisten“ und „Lukaschisten“. Hier werden ausgewählte Zitate aus dem Interview veröffentlicht.

Über die Kultur des Krieges

Wir sind Menschen des Krieges. Das ist unsere ganze Kultur. Man spricht von der großen russischen Kultur, aber das Wichtigste in dieser „großen russischen Kultur“ ist die Kultur des Krieges. Ich erinnere mich an meine Generation, sogar an die Generation meiner Enkelin, die jetzt 17 Jahre alt ist… Sie werden gelehrt, zu töten und zu sterben. Es gibt nichts anderes. Das ist unsere wichtigste Erfahrung.

Über Grausamkeit

Jetzt, wo der Krieg begonnen hat, hat mich diese völlig unverständliche Brutalität natürlich am meisten erstaunt.

Zum ersten Mal bin ich dieser Grausamkeit begegnet, als ich begann, ein Buch über unsere belarusische Revolution zu schreiben. Schon in den ersten Tagen gab es Leute, die ihre eigenen Mitbürger, ihre eigenen Klassenkameraden und Kommilitonen einfingen und ein Stück Fleisch aus ihnen machten. Wissen Sie, als man mir Bilder von Menschen zeigte, die mit dem Krankenwagen eingeliefert wurden, wurde mir klar, dass Tausende, Millionen von Büchern die Menschheit nicht verändert haben.

Über die Kultur der Gewalt

Unsere ganze Kultur basiert nicht auf Liebe. Und das sehen wir doch. Gewalt ist nicht nur eine militärische Operation. Das ist auch häusliche Gewalt und Nachbarschaftsgewalt. Es gibt sehr viele Arten von Gewalt, und ich glaube, wir sind in dieser Kultur aufgewachsen. Wahrscheinlich waren sich die Eltern dessen nicht einmal ganz bewusst.

Über die Beteiligung von Belarus am Krieg

Es ist peinlich, sehr peinlich. Aber ich verstehe, dass unser Belarus unter Besatzung ist. Es ist kein separates Land, es existiert nicht, es ist Teil von Russland. Und wer ist dort der Präsident? Nicht Lukaschenko. Der Präsident ist Putin.

Und da die Revolution so brutal und demütigend niedergeschlagen wurde, haben sich die Menschen sicherlich in ihren eigenen Häusern versteckt. Und ein Teil des Volkes ist komplett verstummt oder hat sich Lukaschenko angeschlossen. Und deswegen können wir nichts tun. Was könnte ich tun, wenn ich dort wäre? Ich wäre genau wie unser Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski, auch in Akreszina. Aufgrund meines Alters und meiner Krankheiten würde ich nicht lange durchhalten. Und das ist schon ganz albern. Wenn ich ein Buch schreibe, erreiche ich damit mehr. Und so ist es.

Über Gespräche mit „Lukaschisten“ und „Putinisten“

Als ich Bücher schrieb, fand ich sogar die Kraft, mit den Wachleuten in den Gefängnissen zu kommunizieren. Wissen Sie, ich bin eine Schriftstellerin. Und was ist ein Schriftsteller? Es ist eine ehrlich denkende Person. Was mich bedrückt, ist, dass ich keine Antworten gefunden habe. Ich bin auf der Suche nach diesen Antworten. Das ist mein Beruf. Das ist mein Leben, meine Arbeit. Wenn ich mich in ein Gespräch einmische und jemandem meine Meinung aufzwinge, könnte sich die Person auch verstecken, sie könnte sich irgendwie vorübergehend verändern, sie könnte sich vor mir schämen oder etwas anderes. Deswegen gebe dem Menschen immer den freien Willen, damit er sagen kann, wer er ist, damit er seine Wahrheit laut verkünden kann.

Über die Ukraine

Ich verneige mich vor den ukrainischen Soldaten. Ich habe Aufnahmen von Kühltransportern gesehen, die tote Helden transportierten, und all die Menschen, die hinauslaufen und am Straßenrand knien. Meine Großmutter erzählte mir, dass es einen solchen Brauch gab.

Ich glaube – obwohl meine Kindheit und Jugend mit der Ukraine verbunden waren – dass ich die Ukrainer nicht kannte, dass ich nicht wusste, was für ein Volk sie sind. Ein Ukrainer sagte mir: „Warum haben Sie denn Angst? Wir gehen einfach hin und sterben. Und warum sind Ihre Leute geflohen oder haben sich versteckt? Warum gehen Sie nicht hin und sterben?“ Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.

Über den russischen Faschismus

Wir haben es mit russischem Faschismus zu tun. Und wenn man sich die dreißiger Jahre anschaut, wenn man liest, was Hitler über Polen und die Tschechoslowakei gesagt hat – das alles ist sehr ähnlich, alles ist furchtbar ähnlich, und wir wissen, wie ansteckend es ist, wie es die ganze Welt überrollen kann.

Wir sollten keine Angst haben, ehrlich zu sagen, dass wir es mit Faschismus zu tun haben. Und die Frage ist: Warum kommt er wieder zu uns zurück? Warum kann sich der Mensch nicht dagegen wehren? Das alles sind die Fragen, die ich in meinem Buch zu beantworten versuche.

Über das neue Buch

Man sagt mir oft, Sweta, man braucht ein Buch. Ich muss dieses Buch schreiben. Aber dieses Buch sollte nicht nur von unserem Leiden handeln. Dieses Buch sollte tiefer gehen – über die menschliche Natur, über die menschliche Unvollkommenheit, darüber, wie es sich herausgestellt hat, dass wir vielleicht irgendwie zu klein für das Wort ‚Freiheit‘ sind, zu unvorbereitet für das Wort ‚Freiheit‘, denn wir sind noch nie frei gewesen, wir haben diese Lebenserfahrung nicht. Die einzige Erfahrung, die wir haben, ist sich gegenseitig zu beschließen.

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