Wie Belarus*innen trotz Diskriminierung um ihre Sprache kämpfen

Warum werden Belarusischsprachige in ihrem Heimatland täglich ausgegrenzt, benachteiligt, verunglimpft oder sogar verhaftet? Kann die belarusische Sprache trotz der Diskriminierung seitens des Regimes gerettet werden? Der neue Film von Voice of Belarus, Malanka Media und dem Menschenrechtszentrum „Viasna“ setzt sich mit den Herausforderungen rund um die Verwendung der belarusischen Sprache in Belarus auseinander.

Jedes Jahr lädt der bekannte Sender Radio Svaboda zu einer Online-Abstimmung über das belarusische Wort des Jahres ein. Im Jahr 2023 war „mova“ der klare Favorit. Viele Belarus*innen bezeichnen ihre Muttersprache liebevoll als „mova“, was einfach „die Sprache“ bedeutet. Ein Zeichen dafür, dass die Belarus*innen die entscheidende Rolle der Muttersprache für ihre Identität und die Gestaltung ihrer Zukunft erkennen.

In ihrem Buch „MOVA 404“ beschreibte die Sprachenrechtlerin Alina Nahornaja, wie gewöhnliche Belarus*innen immer wieder dafür kämpfen müssen, ihr Grundrecht auf den Gebrauch der Muttersprache auszuüben. Die Fehlermeldung 404 – Nicht gefunden steht dabei bildhaft für die Tatsache, dass die belarusische Sprache in der Gesellschaft zunehmend an den Rand gedrängt wird und aus verschiedenen Lebensbereichen in Belarus verschwindet.

Vor zehn Jahren habe ich begonnen, in meinem Alltag Belarusisch zu sprechen, und es war eine merkwürdige Erfahrung, weil alles in unserem Land auf Russischsprachige ausgerichtet ist. Ich hatte keinen Zugang zu vielen Sachen, einschließlich Bildung oder Informationen jeder Art. Bin ich etwa in der Stadt unterwegs und will wissen, welche Haltestelle ich brauche – alles ist auf Russisch. Russischsprechende merken es nicht und es wird schlichtweg vorausgesetzt, dass alle Russisch können. Fängt man aber an, darauf zu achten, steht man schnell vor einer ziemlichen Herausforderung.

Alina Nahornaja, Aktivistin, die sich für Sprachenrechte einsetzt

Es liegt auf der Hand: Russisch zu sprechen ist nicht etwas, was ich selbst gewählt habe. Diese Entscheidung wurde für mich getroffen, mir aufgezwungen. Davor habe ich nie darüber nachgedacht, wie es ist, Belarusisch in Belarus zu sprechen. Ich meine, es war kein Mensch um mich herum, der Belarusisch gesprochen hätte, außer im Sprachunterricht in der Schule. Alles Wichtige ist auf Russisch und es gibt überhaupt keinen Platz für Belarusisch. Die Sprache gibt es, aber man kann sie nicht wirklich benutzen. Aber dann habe ich meinen zukünftigen Mann Ihar kennengelernt und dank ihm den Wert der sprachenrechtlichen Arbeit verstanden.

Er hat sich auf die Durchsetzung der Sprachenrechte mit gesetzlich verankerten Mitteln fokussiert und damit Erfolg gehabt. Bis 2020 waren schon einige positive Ergebnisse zu sehen, etwa Sportplakate auf Belarusisch, alles dank Ihars Bemühungen. Wir haben sogar die Änderung einiger Gesetze durchgesetzt, das klingt heute unglaublich. Zum Beispiel erschien die belarusische Sprache auf Hinweisschildern im Stadtraum. Dafür haben wir ganze Kampagnen geführt mit tollen Resultaten in Homel, auch in Baranawitschy und einigen anderen Städten. Es war nur eine Idee von mir, als ich über Möglichkeiten nachgedacht habe, Belarusisch für alle sichtbarer zu machen.

Wir haben viel Hass geerntet, sowohl von gewöhnlichen Menschen als auch von Beamten. Es konnte vorkommen, dass ich einem Stadtrat unterwegs in der Stadt begegnete, und er mich in aller Öffentlichkeit beleidigte. Mit unseren Bemühungen nervten wir letztlich jede belarusische staatliche Institution. Mit anderen Worten, sie hatten genug von unserem Engagement, erinnert sich Alina.

Als 2020 die Unruhen begannen, sahen diese „wunderbaren“ Institutionen eine Gelegenheit, es uns für all die Probleme, die wir ihnen über die Jahre bereitet haben, heimzuzahlen. Sie mussten und müssen immer noch unsere Anfragen beantworten, zum Beispiel, wann sie ihre Website ins Belarusische übersetzen. Nun waren sie diejenigen, die uns das Leben schwermachen konnten. Zuerst, für ein halbes Jahr oder vielleicht etwas länger, kamen Leute von der Polizei, dem Ermittlungskomitee oder einfach komische Typen mit einem Kleinbus alle zwei Wochen vor unser Haus. Dann passierte es immer öfter. Diese sechs Monate waren unglaublich stressig, weil ich ein Baby hatte, und irgendwann bin ich einfach nicht mehr aus dem Haus gegangen. Die Männer kamen immer wieder vorbei und einmal sind sie in unser Grundstück eingedrungen, in unseren Hof eingebrochen. Ich wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie unser Haus stürmen, weil sie wirklich unverschämt wurden. Also verließen wir unser Haus und begannen, von Ort zu Ort in Belarus umzuziehen. Wir wurden recht geschickt im Verstecken, aber nach einer Weile waren wir dieses Lebens sehr müde und beschlossen, das Land zu verlassen.

Warum sollte ein souveräner Staat versuchen, die Verwendung seiner eigenen Amtssprache einzuschränken und deren Sprecher*innen zu diskriminieren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir in die Vergangenheit schauen.

Die Geschichte der belarusischen Sprache ist recht außergewöhnlich. Jahrhundertelang musste sie Herausforderungen standhalten, bevor sie zum Symbol für Resilienz und Kulturerbe wurde. Historisch bediente sie sich dreier Schriften: der lateinischen, kyrillischen und arabischen. Im mittelalterlichen Großfürstentum Litauen, einem Vielvölkerstaat, spielte Altbelarusisch eine zentrale Rolle als Hauptsprache für staatliche Dokumente, amtliche Korrespondenz und Verwaltungsunterlagen. Aber ab dem 17. Jahrhundert wurde das Belarusische nach und nach vom Polnischen aus dem Staats- und Kulturbereich verdrängt. Das 18. Jahrhundert brachte eine weitere Krise: Die Annexion belarusischer Gebiete durch das Russische Reich führte zum Niedergang der belarusischen Literatursprache. Volksdialekte konnten jedoch überleben und die Eigenart der Sprache über die Zeiten hinweg bewahren.

Die russischen Behörden bekämpften jegliche Manifestation der nationalen Identität, unter anderem wurden Druckwesen und Bildung auf Belarusisch verboten. Aber sie waren nicht in der Lage, die Entstehung neuer Literatur- und Kulturbewegungen in Belarus zu verhindern. Der Dramatiker Vincent Dunin-Marcinkievič war der erste, der eine literarische Karriere auf Belarusisch startete.

Etwa zur gleichen Zeit verfasste Francišak Bahuševič das Grundmanifest der belarusischen Nationalidee. Bahuševič ist weithin als der bahnbrechende Autor der belarusischen Epoche der Wiedergeburt anerkannt, dessen Gedichte auch als Appell gedient haben. In der Geschichte der belarusischen nationalen Selbstbestimmung bedeuteten sie den Anbruch eines neuen Zeitalters.

Das 20. Jahrhundert war eine turbulente Zeit für Belarus, geprägt von Krieg, Besatzung, Stalinschen Säuberungen und der sowjetischen Politik der Russifizierung auf Kosten der Nationalsprachen. Trotz der immensen Herausforderungen hat Belarus einen bemerkenswerten Wandel vollzogen und ist schließlich zu einem souveränen Staat geworden.

Die Belarusische Volksrepublik BNR, die im März 1918 ausgerufen wurde und nur weniger als ein Jahr bestand, wurde zu einer grundlegenden und inspirierenden Kraft auf der Suche nach der nationalen Selbstbestimmung. Das Leitungsorgan der Volksrepublik, die Rada BNR ist seit 1919 im Exil und setzt sich seit über 100 Jahren für die Förderung der Unabhängigkeit und Demokratie in Belarus ein.

Die späten 1980er und frühen 1990er Jahre standen unter dem Zeichen einer bedeutenden kulturellen und sprachlichen Wiederbelebung in Belarus. Auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine kurze Blütezeit für die belarusische Sprache, die endlich einen prominenten Platz im öffentlichen Leben und in der Bildung einnahm. Dadurch wurde das nationale Bewusstsein gestärkt und der Stolz auf die belarusische Kultur und Sprache wuchs.

Die kulturelle Renaissance dauerte jedoch nicht lange. Die politische Landschaft in Belarus erfuhr einen dramatischen Wandel, als 1994 Alexander Lukaschenko an die Macht kam. Sein Regieren war von Anfang an durch die Sowjetnostalgie geprägt. Belarusisch wurde zunehmend mit oppositionellen Stimmen und Ablehnung der autoritären Ideologie assoziiert.

„Von Anfang an stützte Lukaschenko sein politisches Programm auf eine gewisse Nostalgie für die Sowjetzeit und spielte den sowjetischen Terror sowie die sowjetische Russifizierung herunter, verharmloste die Gefahr und banalisierte die Tragödie. Deshalb trat er als explizit russischsprachiger Kandidat für das Parlament und später bei der Präsidentschaftswahl an. Einmal an der Macht, griff Lukaschenko sehr schnell die sowjetische Politik der Russifizierung wieder auf, die über Jahrzehnte angedauert und zutiefst tragische Folgen für die belarusische Identität und Sprache hatte.“

Aleś Čajčyc, Vertreter der Rada BNR

Für die Fortsetzung dieser Politik war das so genannte Referendum von 1995 ein entscheidender Meilenstein, das der russischen Sprache offiziell wieder den Status einer Amtssprache verlieh. Das Russische war davor eine anerkannte Verkehrssprache, aber das Belarusische hatte quasi den Vorrang und mehr „Gewicht“ als die einzige Amtssprache, obwohl es niemandem verboten war, Russisch zu verwenden.

„Das „Referendum“, das das Russische zur zweiten Amtssprache erhoben hatte, war natürlich illegitim und gefälscht, im Grunde wie alle Wahlen unter Lukaschenkos Herrschaft. Nachdem Russisch zur zweiten Amtssprache erklärt worden war, wurde es effektiv zur ersten und einzigen Sprache des Staats“, betont Aleś.

Mit der Zeit verschlechterte sich die Situation immer weiter und das Belarusische verschwand allmählich aus verschiedenen Lebensbereichen, darunter auch aus Bildung, staatlichen Medien sowie Politik und Verwaltung. Heute arbeitet der belarusische Staat fast ausschließlich auf Russisch, rund 95 % der Kommunikation findet in dieser Sprache statt. Es gibt bestimmte kulturelle, traditionelle und folkloristische Kontexte, in denen die belarusische Sprache immer noch einen Zufluchtsort hat. Praktische und grundlegende Informationen sind jedoch nur auf Russisch verfügbar. Das ist Fakt. Es ist einzigartig für Europa, dass die Amtsprache des Landes durch den souveränen oder vielmehr den nominell souveränen Staat marginalisiert wird. Das findet man sonst nirgends.

Schon vor den friedlichen Protesten im August 2020 war die Verwendung des Belarusischen im Berufsumfeld, in akademischen Einrichtungen und anderen formellen Umgebungen nicht nur ungewöhnlich, sondern wurde oft als eine Form der politischen Äußerung angesehen.

„Früher habe ich mich nie wirklich bemüht, Belarusisch zu lernen, weil ich keinen Sinn darin gesehen habe. Ich meine, ich kann Russisch, also warum sich die Mühe machen? Aber dann habe ich verstanden, dass es nicht um Nationalismus geht. Wenn ich nicht bei mir selbst anfange, wie kann ich dann erwarten, dass sich etwas ändert?“

Zmicier Karol, Arzt, LGBT-Aktivist

Also habe ich beschlossen, ein Experiment zu machen, um zu sehen, ob ich Belarusisch sprechen, auf Belarusisch studieren und schließlich als belarusischsprachiger Arzt arbeiten könnte. Natürlich fällt es anderen sofort auf, wenn man Belarusisch spricht. Aber es gibt da einen Unterschied. Es war viel weniger offensichtlich, dass ich zur queeren Community gehöre, da ich nicht besonders feminin aussehe. Wenn Leute herausfanden, dass ich schwul bin, […] stellten die meisten von ihnen keine weiteren Fragen mehr; sie haben das für sich eingeordnet und sagten: „Ah, okay“. Wenn ich jedoch Belarusisch sprach, musste ich erklären, warum ich zu dieser Wahl stehe und warum sie politisch bedeutsam ist – obwohl ich an keinen politischen Kampagnen, Kundgebungen oder anderen Aktivitäten beteiligt war. Die bloße Anwesenheit eines belarusischsprachigen Arztes erforderte also eine Rechtfertigung: Ich musste den Menschen versichern, dass es nicht gefährlich war, dass es meine Arbeit nicht behinderte, anderen Ärzten keine Probleme bereitete und dass ich gut mit anderen Fachleuten kommunizieren konnte.

Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 erklärte Lukaschenko, er habe 80,1 % der Stimmen erhalten. Die belarusische Gesellschaft akzeptierte die Ergebnisse der manipulierten Wahlen nicht und es kam zu massiven und anhaltenden Protesten. Als Reaktion auf die Proteste ging das Lukaschenko-Regime mit beispielloser Gewalt gegen Mitglieder der Zivilgesellschaft vor. Tausende Menschen wurden verhaftet und Hunderttausende sahen sich gezwungen, aus dem Land zu fliehen.

Seit den Protesten ist die belarusische Sprache zunehmend zum Ziel von Angriffen des Lukaschenko-Regimes geworden. Die Umfrage von Alina Nahornaja zeigt ein beunruhigendes Muster von Repression und Zensur gegen Menschen, die Belarusisch verwenden. Ein Akt der Kommunikation auf Belarusisch verwandelt sich in einen Akt des Widerstands, der das Risiko von Verfolgung und Verhaftung birgt.

Belarusische Bücher werden verboten, sogar zwei Gedichte des belarusischen Klassikers Vincent Dunin-Marcinkievič sind nun als „extremistisch“ eingestuft.

Trotz der Repressionen in Belarus beobachten wir wachsendes Interesse gegenüber der belarusischen Sprache, sowohl im Inland als auch im Ausland. Eine der Hauptaufgaben der belarusischen demokratischen Kräfte im Exil ist es, Belarusisch wiederzubeleben – durch Förderung seiner Verwendung in Bildung, Literatur, Buchdruck, Musik, Film und anderen Bereichen.

Nach dem Fall des Lukaschenko-Regimes werden enorme Anstrengungen erforderlich sein, um den durch die jahrzehntelange diktatorische Herrschaft verursachten Schaden zu beheben. Ein kritischer Schwerpunkt sollte dabei die erneute Etablierung des Belarusischen in allen Bereichen der Gesellschaft sein.

Alina Nahornaja glaubt, man braucht sich um das Belarusische nicht zu sorgen, denn die Sprache hat so viel durchgemacht und hat dennoch überlebt. Sie glaubt, dass die belarusische Staatlichkeit ihre Grundlage in der Nationalsprache hat. „H wenn also jede und jeder nur einen kleinen Beitrag leistet, wird sich das Belarusische im Gebrauch allmählich verbreiten und sich immer mehr durchsetzen“, sagt Alina.

Die Belarus*innen sind sich der bevorstehenden Herausforderung wohl bewusst und haben ihre Zukunft nicht aufgegeben. Es spricht Bände, dass das Wort „nadzieja“ auf Platz 4 der belarussischen Wörter des Jahres gewählt wurde. Es bedeutet schlicht und einfach „Hoffnung“.

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