August 2020  — Das Medienprojekt „August2020“ (august2020.info/de) sammelt und veroffentlicht Zeugenaussagen uber Folterungen, Verletzungen und Misshandlungen wahrend der friedlichen Proteste, die nach den Wahlen in Belarus im Jahr 2020 stattfanden.

Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Aksana D.

22 Jahre, Selbständige. „Das Jugendamt sei bereits unterwegs zu mir. In diesem Moment hatte ich den Boden unter den Füßen verloren“

In der Stadt Stolin mit 12.000 Einwohnern gab es nur eine Person, die für die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja geworben und Unterschriften gesammelt hatte: Aksana Dabrijanets. Am Wahltag war sie Wahlbeobachterin in einem der Wahllokale. Bereits im Sommer vor den Wahlen war Aksana mit ihren Kommentaren in den Medien stark präsent. Die Aktivistin wurde gezielt – durch eine Festnahme, Verhöre, Polizeiprotokolle, eine Durchsuchung und Androhungen, ihr das Kind wegzunehmen – dazu gezwungen, das Land zu verlassen. Schon vier Monate lebt Aksana im ukrainischen Exil buchstäblich aus dem Koffer und hat Angst sich einzugestehen, dass ihre Tochter wohl eher nicht in Stolin zur Schule gehen wird.

Der Weg zum August

— Mit 15 bekam ich ein Kind und so fing für mich ein hartes unabhängiges Leben an. Ich bekam es am eigenen Leib zu spüren, wie falsch alles laufen kann. Zwei Jahre vor der Wahl stand ich jedoch mit beiden Beinen im Leben: Ich bot Maniküre an und verdiente nicht schlecht damit, zumindest für die Verhältnisse in Stolin. Ich schrieb Briefe an politische Gefangene (es gab damals sechs davon), schickte ihnen Geld. Doch über Politik wurde bei uns nicht gesprochen. Dann kam die Pandemie. Ich wohnte vor einem Krankenhaus und sah die vielen Krankenwagen, die die Patienten zur „verseuchten“ Station brachten. Es war total ärgerlich und verwirrend für mich, dass die Menschen von der tatsächlichen Lage nichts mitbekamen, dass sie im Stich gelassen wurden. Ich hatte schon immer einen sehr starken Sinn für Gerechtigkeit. Das alles kam in Schüben… Und dann auch noch die Wahl mit dem Sammeln von Unterschriften für oppositionelle Kandidaten. Als Erstwählerin wollte ich unbedingt, dass auch meine Stimme zählt.

Zuerst wollte ich nach Pinsk, um Unterschriften zu sammeln, doch dann überlegte ich es mir anders: Auch in Stolin gab es eine Menge Leute, die unterschreiben wollten. Ich setzte mich mit Aktivisten in Pinsk in Verbindung. Sie meinten: Finde erst einmal 150 Personen, die in Stolin mitmachen, dann kommen wir für einen Tag rüber. Ich erstellte eine Chat-Gruppe und sie wuchs innerhalb von wenigen Stunden auf 150 Teilnehmer an. Dann fand ich einen Ort für die Aktion, und gleich am ersten Tag kamen bereits 333 oder 335 Unterschriften zusammen. Demonstriert wurde in Stolin seit den 90-er Jahren nicht mehr. Werbung für die Unterschriftenkampagne konnte nicht geschaltet werden, denn es gibt keine unabhängigen Medien in der Stadt. Doch viele sahen uns von ihren Balkonen aus und kamen, um zu unterzeichnen. Nach der ersten Aktion konnte ich vor lauter Aufregung 48 Stunden lang nicht einschlafen. Ich war darauf vorbereitet, dass die Wahlergebnisse gefälscht werden. Doch ganz Belarus erhob sich dagegen und so hatte ich keine Zweifel, dass wir siegen werden. Ich war entschlossen und voller Mut.

Ich kam als Wahlbeobachterin ins Wahllokal, das sich in meiner alten Schule befand. Ich machte extra bei der frühzeitigen Stimmabgabe nicht mit, denn dadurch hätte ich keine Wahlwerbung betreiben können. Ich klebte Flugblätter und weiße Bändchen, das Protestsymbol. Wenn ich Menschen vor ihrem Hauseingang antraf, fragte ich direkt, ob sie wählen gehen würden. Die Rentnerinnen erwiderten immer: „Unbedingt, und zwar am Nachmittag“. Einmal sah mich eine Bekannte, die Ehefrau eines Polizisten beim Kleben der Flugblätter. Sie meinte dazu: „Klebe mehr davon, damit alle wissen, wie man abstimmen sollte“. Die Ironie des Schicksals bestand aber darin, dass ausgerechnet ihr Mann später bei meiner Festnahme dabei war und mich bedrohte.

Gleich am ersten Tag kamen 333 oder 335 Unterschriften zusammen. Werbung für die Unterschriftenkampagne konnte nicht geschaltet werden, aber viele sahen uns von ihren Balkonen aus und kamen, um zu unterzeichnen“

– Früher liefen die Wahlen in unserer Schule so ab: Ein paar Leute kamen ins Wahllokal und das war es dann auch schon! Aber diesmal riss der Menschenstrom nicht ab. Manche kamen mit weißen Armbändchen, die einen zwinkerten mir zu, die anderen falteten ihre Wahlzettel im Zickzack, berührten mich an der Schulter oder flüsterten mir zu „Es lebe Belarus!“. Um die Mittagszeit ging ich kurz zur Toilette raus. Zurück im Wahlraum sah ich an meiner Stelle Pro-Regierungs-Wahlbeobachter sitzen. Dann fing ich eben an, vor dem Wahlraum zu zählen. Doch ein Polizist wollte mich hinauswerfen. Ich stellte mich vor dem Schuleingang und danach saß ich auf der Bank im Hof. Doch der Polizist wollte mich schließlich auch weg vom Grundstück haben. Ich ging aber nicht. Nach und nach sammelten sich Menschen um mich herum.

Natürlich schaffte ich es nicht mehr, bei der Stimmenauszählung dabei zu sein. Zweimal kam der Polizist heraus und warnte, dass er Verstärkung holen würde. Wir – etwa vier bis fünf Personen – reagierten nicht darauf. Die anderen Wahllokale wurden bereits geschlossen, doch das unsere hatte es nicht mal vor. Wir sahen, wie man drin immer wieder die Vorhänge hob, um zu sehen, ob wir noch da waren. Als der Polizist weg war, gingen wir in das Schulgebäude rein. Die Teilnehmer der Wahlkommission stellten sich zu einer Reihe auf, um uns am Reinkommen zu hindern: „Nur Wahlbeobachter dürfen hier rein“. Schließlich kamen wir zu zweit rein: Für Lukaschenko mehr als 1000 Stimmen, für Tichanowskaja – 300, hieß es. Wir waren enttäuscht und wie gelähmt.

Das waren meine ehemaligen Lehrer. Der Geschichtslehrer, der die Regierung kritisierte, sich mit uns viel über den Maida in der Ukraine unterhielt: „Schämen Sie sich denn gar nicht, Juri Michailowitsch?“ Gesenkten Kopfes gingen sie an uns vorbei. Es war gegen Mitternacht. Wir hatten beschlossen, in die Innenstadt zu fahren in der Hoffnung, dass jemand zu Protesten rauskam. Doch es blieb still in der Stadt.

Festnahme. Sie drohten mich zu vergewaltigen… Gleich wirst du singen, so oder so

— Am 11. August wurde ich festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt gab es bei uns gar keine Protestaktionen. An diesem Tag war ich in der Stadt unterwegs und sammelte – als Beweis für eine Wahlfälschung – Unterschriften von denjenigen, die in meinem Wahllokal für Tichanowskaja gestimmt hatten. Doch die Menschen waren verängstigt, und ich dachte mir schon, dass mich jemand bei der Polizei verpfeift. Dann kam auch schon ein Polizeiwagen an und mir wurde befohlen einzusteigen. Es konnte auch sein, dass man mich zufällig aufgegriffen hatte, denn ich trug ein T-Shirt mit „Stolin zum Leben“ drauf. Ich bat die Beamten sich mit Namen vorzustellen, woraufhin zwei von ihnen raussprangen, mir die Hände fesselten, mich ins Auto schleppten und zur Bezirkspolizei brachten.

Ich sagte, dass ich ein Kind zu versorgen habe. Doch sie brüllten mir entgegen: Dann hättest Du dich eben nicht weiß Gott wo herumtreiben sollen… Bis zur Bezirkspolizei sind es etwa 10–15 Minuten und die ganze Zeit beschimpften sie mich wie wild: „Wegen Leuten wie dir hat man unsere Brüder in Pinsk zusammengeschlagen! Dich buchten wir jetzt ein!“, und so weiter. Mein Handy wurde mir entrissen.

In der Bezirkspolizei wusste man nicht meine Festnahme zu begründen. Im Raum waren etwa 5 bis 7 Polizisten. Ich sollte „gestehen“. Aber was? Keine Ahnung! Dann ging es mit dem Verhör los: Warst du in Pinsk? Dort waren ja Protestaktionen. Ich berief mich auf meine Verfassungsrechte (Artikel 27 räumt das Recht ein, die Aussage zu verweigern, wenn man sich selbst oder Familienangehörige damit belastet — August 2020), doch sie brüllten wieder los, beleidigten mich. Sie drohten mich zu vergewaltigen, wenn ich nicht zu reden anfange: „Wir buchten dich für 24 Stunden ein und werden dir das Kind wegnehmen“. Sie sagten: „Gleich wirst du singen. So oder so.“ Sie lachten mich aus, als ich nach einem Anwalt fragte.

Eine Zeit lang wurde sehr viel Druck auf mich ausgeübt. Mir wurde schlecht und ich rutschte beinahe vom Stuhl. Sie verhöhnten mich: „Sollen wir dir etwa noch einen Notarzt rufen?“. Das war als Spott gemeint. Ich wollte etwas zu Trinken und bekam Wasser, doch ich wurde auf einmal total misstrauisch: Was könnte da alles noch drin sein? Sie brachten mich zum Wasserspender. Ich hatte schreckliche Angst, denn ich hatte ja bereits im Internet gesehen, was alles in Minsk los war. Ich versuchte deshalb Ruhe zu bewahren, damit man mich bei der Polizei nicht zusammenschlägt oder vergewaltigt.

„Solche Ratten wie dich sollte man nicht nur zusammenschlagen, erschießen sollte man euch!“. — „Was für Ratten?“ — Die nach Pinsk zu Demos fahren“

– Immer wieder kam jemand kurz rein und spottete: „Oh, der hoffnungslose Fall ist immer noch da!“. Dann kam ein Polizist, aber in Schwarz gekleidet. Er setzte sich mir gegenüber, ballte die Fäuste, sprang auf mich zu und brüllte mich an: „Solche Ratten wie dich sollte man nicht nur zusammenprügeln, erschießen sollte man euch!“ — „Was für Ratten?“ — „Die nach Pinsk zu Demos reisen“. (Ich war in Pinsk vor den Wahlen bei einer Mahnwache). Ich hatte eine Vorahnung, dass er mich gleich schlagen wird, denn er zwinkerte den anderen Polizisten zu und die verließen den Raum einer nach dem anderen. Ich fing an zu reden. Gefragt wurde immer wieder über Pinsk, wie ich dazu kam, die Unterschriften zu sammeln, was ich gegen Lukaschenka hätte.

In meinem Handy fanden sie einen Chat, in dem ich mich mit einem Freund darüber ausgetauscht hatte, ob wohl jemand in Stolin zu Protesten rauskommen würde. Dort schrieb ich, dass ich wahrscheinlich doch nach Pinsk fahren würde, da in Stolin alle verängstigt waren. Da ging das Gebrüll wieder los: „Jetzt buchten wir dich aber ein!“. Sie waren dabei, Bilder und Videos auf meinem Handy zu löschen und entdeckten ein automatisch gespeichertes Video aus Telegram. Es zeigte, wie eine Demo in Pinsk durch die Polizeisondereinheit OMON auseinandergetrieben worden war. Anfangs beklagten sie sich ja, dass sie von den Demonstranten verprügelt wurden, wollten sich als Opfer darstellen, doch beim Ansehen dieses Videos amüsierten sie sich: „Schaut! Das bin ich, man wirft gerade eine Mülltonne nach mir! Und das bin ich: Ein Stock fliegt auf mich zu!“ Die platzten regelrecht vor Lachen.

Als das zweite Protokoll über das Kleben von Flugblättern erstellt wurde, sagte ein Polizist zu mir: „Du brauchst einen Polizisten als Ehemann, der dich ordentlich durchbumst, damit du den Quatsch da nicht mehr machst“. Dabei hat er seinen Ehering abgenommen und auf den Tisch vor mit gelegt. Weiß ich auch nicht, was das sollte.

Nur eine einzige Person wusste von meiner Festnahme: Wir telefonierten gerade in dem Moment. Der Mann hat es weitererzählt und so bekam es auch meine Mutter über Bekannte mit. Sie versuchte mich auf dem Handy zu erreichen, doch die Polizisten wiesen die Anrufe ab. Meine Mutter rief auch auf der Wache an, doch es hieß: ich sei nicht da. Warum ich nicht für 24 Stunden festgehalten wurde, weiß ich nicht genau. Doch mir wurde später erzählt, dass gerade viele Angehörige der Inhaftierten aus Pinsk vor dem Gebäude gesehen wurden. Es könnte darauf gedeutet haben, dass die wenigen Zellen bei der Bezirkspolizei bereits voll waren.

Ich unterzeichnete die Protokolle, denn es kam mir so vor, als hätte ich eine Ewigkeit bei der Polizei verbracht und wusste auch nicht, ob ich da überhaupt je rauskommen werde. Ich wurde insgesamt 7,5 Stunden festgehalten. Gegen vier Uhr morgens kam ich raus: Leicht bekleidet, mitten in der Nacht, ohne zu wissen, wie spät es ist. Und da sagte ich: „Bringt mich schön wieder dorthin, wo ich festgenommen wurden!“ Zunächst stellten die sich an, aber dann fand sich doch ein Wagen, mit dem ich zurückgebracht wurde.

Am Tag darauf musste ich erstmal herunterkommen. Doch danach ging ich zu meiner ersten Protestaktion raus. Geplant hatte ich eine Mahnwache als Einzelperson, doch es wurden am Ende über 30 Menschen. Am nächsten Tag kamen 300 und zu einem Marsch sogar über 500. Und das alles, als in Stolin bereits niemand mehr zu Protesten rausging. Wenn, dann fuhr man dafür nach Minsk.

Ein Polizist schrie mich in Anwesenheit meiner Anwältin an: „Die Verfassung gilt nicht bei Ordnungswidrigkeiten!“

– Ich engagierte eine Anwältin, bereitete eine Anzeige wegen unrechtmäßiger Festnahme vor. Klar, dass nur noch formelle inhaltslose Antworten zurückkamen. In Fettschrift stand in einem Schreiben: „Bei weiteren Anträgen, die Informationen enthalten, die nicht der Wahrheit entsprechen, wird ihr Handeln nach Artikel 9.2 des Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten der Republik Belarus als Verleumdung ausgelegt“. Vor Gericht sagten die Polizisten aus, dass ich von alleine zur Bezirkspolizei gekommen sei.

Das Verfahren wegen politischer Agitation wurde aufgrund fehlenden Tatbestands eingestellt. Ein weiteres Verfahren (Nach Artikel 23.34, Teil 2 des Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten der Republik Belarus) wurde vom Gericht zurück an die Ermittler geschickt: Eine einzige Nachricht auf meinem Handy reichte wohl doch nicht für eine Anklage aus. Unglaublich dabei: Am 11. August wollte ich das Protokoll nicht unterzeichnen, doch dann sah ich, dass darauf nur „Protokoll der Befragung“ stand. So etwas unterzeichnet man normalerweise als Zeuge. Da dachte ich mir: Mit Hilfe eines Anwalts wird das schnell erledigt sein. Doch hinterher wurde mit einem Kugelschreiber nach „Protokoll der Befragung“ hinzugefügt: „einer Person, gegen die ein Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit eingeleitet wurde“. Und damit kamen sie durch!

Ich musste nur ein paar Wochen abwarten: Wenn man keine Vorladung zum Erstellen eines neuen Protokolls zugestellt bekommt, wird die Ermittlung wegen abgelaufener Frist eingestellt. Daher mussten sie mich erwischen. Immer wieder warteten Polizisten vor meinem Hauseingang auf mich. Einmal wurde an der Tür geklopft. Ich machte nicht auf. Doch wahrscheinlich wurde ich gesehen, und sie schlugen wild dagegen. Meine Tür ist alt: Einmal treten und auf ist die. Ich hatte es ausgesessen und ging dann mit meiner Anwältin zur Bezirkspolizei.

Das Protokoll zum SMS-Chat wurde vernichtet und ein neues erstellt: Über die Proteste an einem öffentlichen Ort (nach §23.34, I). Meine Anwältin wollten sie vor die Tür setzen und schrien mich an: „Du bist verpflichtet auch gegen dich selbst auszusagen“. Ich berief mich auf die Verfassung, doch ein Polizist brüllte: „Ordnungswidrigkeiten haben nichts mit der Verfassung zu tun!“. Das alles in Anwesenheit einer Anwältin. Schließlich wollte er mir aus dem Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch vorlesen, um zu beweisen, dass er recht hatte. Als jedoch feststand, dass dem nicht so war, kriegte er einen Wutanfall und schmiss das Buch weg. Das war schon lustig anzusehen. Meine Anwältin fing an, eine Anzeige aufzusetzen und wurde angebrüllt: „Dich buchten wir gleich auch mit ein!“. Dann wurde der Polizist ruhiger: „Wenn du nicht gegen dich aussagen willst, musst du aber über die anderen reden, die auch bei den Protesten dabei waren“. Er zeigte mir ein Video und es ging von vorne los.

Mein Gerichtstermin wurde um einen Tag vorverlegt. Ich wurde nicht benachrichtigt, sollte aber deswegen ein Bußgeld in Höhe von 25 Bezugswerten von je 29 Rubel zahlen. Mein Handy wurde zur teilweisen oder vollständigen Vernichtung beim Gutachten freigegeben. Als ich das Gerät zurückbekommen hatte, funktionierte es nicht mehr.

Durchsuchung und Exil. „Ich lebte in ständiger Erwartung, ‚zur Räson gebracht‘, mundtot gemacht zu werden“

— Seit September 2020 schrieb ich für „1reg.org“ in Brest. In unserer Stadt gibt es keine unabhängigen Medien, aber ich erhielt viele Informationen, da Menschen mich mittlerweile kannten. Wenn etwas passierte, kriegte ich es sofort mit. Ich half auch gern: Konsultierte einen Anwalt, konnte bei Rechtsfragen unterstützen. Ich war froh, dass die Menschen wussten: Mich kann man immer ansprechen. Nach meiner Festnahme hatte ich etwas darüber auf Facebook gepostet und eine Frau meldete sich, um mir einen Anwalt zu vermitteln. Ich brachte auch Pakete für die Festgenommenen. Das machte ich allein, kaum jemand half dabei. Natürlich war ich auch bei Protesten dabei und bei Gerichtsterminen von anderen. Damit fiel ich auf und wurde scharf beobachtet.

Und so erhielt ich meine erste Vorladung von der Staatsanwaltschaft. Es wurde gegen Unbekannt wegen Graffiti mit Beleidigungen von Polizisten ermittelt. Ich wusste nicht mal, wo sich das betroffene Gebäude befand, wurde jedoch – warum auch immer – als Zeugin vorgeladen. Ein paar Monate darauf kam ich nach Hause und hörte komische Geräusche im Hauseingang. Ich wusste sofort, dass es etwas mit mir zu tun hatte.

In den ersten zwei Monaten nach der Festnahme benutzte ich immer ein Taxi, denn mir wurde gesagt: „Dich werden wir jetzt ständig festnehmen, ein falsches T-Shirt oder so etwas wird schon reichen“. Ich hatte Angst vor Autos, lebte in ständiger Erwartung „zur Räson gebracht“, mundtot gemacht zu werden. Ich war zu aktiv für Stolin, wo man sehr um ein hübsches Bild ohne Proteste bemüht war. Irgendwann hatte ich es satt, in ständiger Erwartung zu leben, und als sie dann wirklich kamen, war es wie eine Erlösung: Ich wusste, was passieren wird.

Ich wusste, dass ich festgenommen werde, doch ich wollte es der Polizei nicht all zu einfach machen

Durchsuchungsbefehl vorgezeigt. Ich verlangte nach einem Anwalt, das wurde abgelehnt, wie auch meine Bitte um Videoaufnahme und Bestellung von unabhängigen Zeugen. Mir wurde gesagt: Es geht um Graffiti und es wird nach Farbsprühdosen gesucht. Also, das war die einzige Hausdurchsuchung in der ganzen Stadt im Rahmen dieser Ermittlung, und zwar bei mir als Zeugin.

Die Durchsuchung verlief über 45 Minuten ganz ruhig. Alles wurde sorgfältig durchsucht, doch sichergestellt wurde nur ein T-Shirt mit „Stolin fürs Leben“ drauf, ein Plakat, diverse Artikel über mich in den Medien, ein Armbändchen in den Protestfarben weiß-rot-weiß und eine alte Analogkamera. Sobald die amtliche Videoaufnahme beendet wurde verlangten sie nach meinem Handy. „Ihr habt doch einen Hausdurchsuchungsbefehl, also durchsucht doch das Haus“. Das Handy steckte in meiner Hosentasche. „Nein, du bist verpflichtet es rauszurücken“. Ich fing an zu diskutieren, las aus dem Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch laut vor. Sie brüllten mich an: „Rück es raus, denn sonst machen wir es mit Gewalt. Willst du das etwa? Dann nehmen wir auch noch den Widerstad gegen Vollstreckungsbeamte ins Protokoll mit auf“. Zu diesem Zeitpunkt waren die Zeugen schon weg. Nur drei Polizisten blieben zurück.

Etwa drei Stunden lang machten sie Druck auf mich. Sie riefen beim Jugendamt an: Das Kind möge bitte von der Schule abgeholt werden, da ich gleich festgenommen würde. Sie versuchten, mich aus der Wohnung abzuführen. Ich wurde auch wegen meiner Kommentare in den Medien angeschrien: „Wenn du nicht aufhörst, buchten wir dich ein“. Die Polizisten riefen ihre Vorgesetzten wegen meines Handys an. Ich konnte teilweise mithören: „Was sollen wir tun, sie gibt es nicht her… wir können es ihr doch nicht einfach so abnehmen“. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas richtig zu machen.

Ich wusste, dass ich festgenommen werde, doch ich wollte es der Polizei nicht allzu einfach machen. Und da zuckte ich nicht mal mit der Wimper, als es hieß, dass ich zur Bezirkspolizei gebracht werde. Ich packte ein paar Sachen, setzte mich hin und wartete.

Dann traf eine Polizistin ein und die gleichen Zeugen wie zuvor. Ich wurde nicht um Erlaubnis gebeten, sie traten in meine Wohnung ein und bewegten sich wie zu Hause. Ich machte alle Zimmertüren zu und forderte sie auf, im Flur zu bleiben. Doch dann drückte mich die Beamtin an die Wand und zog mir das Handy aus der Tasche. „Ende der Durchsuchung!“: sie fing an Unterlagen auszufüllen. Dann gingen sie alle. Damit dauerte die Durchsuchung fünf Stunden.

Nach den Festnahmen und Durchsuchungen, nach alldem, wie ich von den Polizeibeamten behandelt wurde, spüre ich nun etwas zwischen Angst und Ekel allen Männern gegenüber.

„Meine Tochter wurde in der Schule wegen mir gemobbt. Wenn sie sich aufregt, bekommt sie Nasenbluten. Wenn sie sich nach der Schule zu Hause umzog, tropften Blutpfützen auf den Boden

– Mir wurde klar, dass ich nicht in Ruhe gelassen werde. Ich fing an, über einen Umzug nachzudenken. Am übernächsten Tag kam ein Anruf: Das Jugendamt sei bereits unterwegs zu mir. In diesem Moment hatte ich den Boden unter den Füßen verloren. Buchstäblich in einer Viertelstunde war ich mit dem Packen fertig. Ohne diesen Anruf wäre ich in Belarus geblieben.

Ich rief meine Mutter an: „Mama, nimm die Kinder und geht nach draußen, ich komme gleich bei euch vorbei!“ Ich kam mit dem Auto, hielt kurz an und erklärte, dass ich in die Ukraine ausreise. Natürlich wollte ich nicht ins Exil. Es kam mir vor, als würde ich jemanden verraten. Ich zitterte. Mama fing an zu weinen, die Kinder auch. So standen wir etwa fünf Minuten draußen, verabschiedeten uns und ich fuhr mit meiner Tochter los. Es ist schön, von meinen Eltern all diese Wärme und Unterstützung zu bekommen. Ehrlich gesagt, war es mir in Belarus gar nicht bewusst, wie wichtig es für mich ist, bei meiner Mutter zu sein. Doch nun, im Exil, verspüre ich ein dringendes Bedürfnis danach und vermisse hier all meine Angehörigen sehr.

Ich fuhr am Wochenende los. Am Montag kam die Nachricht, dass gegen mich nun auch ein Verfahren wegen Widerstandes gegen die Polizeibeamten anhängig sei. Meine Vermutung: sie wollten mich für einen Tag festnehmen und danach nicht mehr rauslassen. Seit Februar 2021 lebe ich in Kiew. Doch in Stolin werden meine Bekannten vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität vorgeladen und über mich verhört: Irgendwelche Ermittlungen über Finanzangelegenheiten. Das verstehe ich aber nicht, denn bei der Wohnungsdurchsuchung wurde ich nicht danach gefragt, ob ich für die Teilnahme an den Protesten von jemandem bezahlt worden sei oder selbst jemanden dafür bezahlt hätte, oder danach, wer die Proteste finanziert haben sollte.

Durch den ganzen Stress bekam ich eine Hormonstörung, hatte auch immer wieder Schwindelanfälle, war in einer Therapie wegen Panikattacken. Aktuell nehme ich Schlafmittel. Davor konnte ich zwei bis drei Stunden täglich schlafen: Ich hatte Albträume, wachte auf und konnte dann nicht mehr weiterschlafen. Aus Angst. Im Exil wurde es noch schlimmer. Bei der Ausreise hatten wir einen Autounfall bei Minsk. Meine Tochter war dabei. In einem wilden Schneegestöber rutschte unser Wagen zunächst von der Straße ab und landete im Straßengraben. Beim Rausfahren, wurden wir dann auch noch von einem anderen Auto erfasst. Ein traumatisches Erlebnis. Hier in der Ukraine fühle ich mich in Sicherheit, doch wenn ich erfahre, dass meine Freunde und Bekannten in Belarus wegen mir bei der Polizei vorgeladen werden, mache ich mir wieder Sorgen um meine Angehörigen, erlebe aufs Neue all die Ungerechtigkeiten und es geht mir wieder ganz schlecht. Zeitweise kann ich dann auch ein paar Tage gar nicht aufstehen, bleibe im Bett und vergesse sogar zu essen.

In Belarus wurde meine Tochter wegen mir in der Schule gemobbt. Sie hatte eine Lehrerin, die pro-Lukaschenka war. Diese Lehrerin entdeckte Bilder von Demos auf dem Handy meiner Tochter, die mich auch zu allen Protestaktionen begleitet hatte. Daraufhin machte die Lehrerin meine Tochter vor der versammelten Klasse zur Schnecke: „All diejenigen, die zu Protesten gehen, sind Drogensüchtige und Alkoholiker. Und deine Mutter… die macht es doch fürs Geld, wird aus Polen dafür bezahlt“. Meine Tochter wurde schikaniert: Die Lehrerin schlug sie mit einem Lineal auf die Hände, drohte ihr mit Sitzenbleiben. Wenn meine Tochter sich aufregt, bekommt sie Nasenbluten. Wenn sie sich nach der Schule zu Hause umzog, tropften Blutpfützen auf den Boden. Meine Tochter wurde zeitweise schwer krank. Ich war bei der Schulleitung: Die Schuldirektorin war ja die Einzige in Stolin, die sich nicht an der Fälschung von Wahlergebnissen beteiligt hatte. Ich schickte meine Tochter immer seltener zu Schule, da kam auch schon die Pandemie.

Meine Festnahme bekam meine Tochter mit. Da ich in Erwartung einer weiteren Festnahme lebte, bereitete ich sie darauf vor, dass sie eines Tages von fremden Typen in Uniform von der Schule abgeholt werden könnte: Dann würden aber bald Papa oder Oma kommen und alles wird wieder gut… Nun vermisst sie alle sehr und weint oft.

Jetzt muss ich mich darauf konzentrieren, weiterzukommen, um später für Belarus nützlich zu sein

– Ich erhielt viel Unterstützung von Exil-Belarussen aus der ganzen Welt. Doch ich hätte mir so sehr mehr Unterstützung in meiner Stadt gewünscht… Das kränkte mich. Bereits im September kam kaum noch jemand zur Maniküre. Ich war sehr präsent in den Medien und das machte den Leuten wahrscheinlich Angst. Nur die treusten Seelen blieben. In Stolin fand ich Unterstützung von einigen Kundinnen und von ein paar Personen, die ich vorher gar nicht gekannt hatte. All denen bin ich sehr dankbar. Es gab aber auch Hetze. Ich erhielt Briefe: „Du bist jetzt weg, hast kein Recht dich zu Belarus zu äußern“. Es gab auch eine Menge Gerüchte, dass ich für die Teilnahme an den Protesten Geld erhalten hätte.

Es traf mich sehr, dass der Protest in der Stadt sich legte. Die Menschen wurden eingeschüchtert, oder sie verstehen es einfach nicht, dass jeder zählt… Für die Freiheit muss man doch kämpfen. Aber in meiner Stadt leben viele nach dem Motto: „Hauptsache, es trifft nicht mich“. Auf Unternehmer, die auch protestiert hatten, wurde viel Druck ausgeübt. Doch die Menschen zeigten keine Solidarität mit ihnen. Wir hatten zwei kleine Läden, und dann wurde genau dazwischen ein Discounter „Hit“ eröffnet. Und man fing an dort einzukaufen, obwohl ich dazu aufgerufen hatte, unsere Geschäftsleute zu unterstützen: Sie hatten doch für diejenigen gespendet, die Bußgelder bezahlen mussten… Ich kann es zwar nachvollziehen, doch ich teile diese Haltung nicht.

Wir alle hier in der Ukraine verstehen schon, dass wir nicht so schnell zurückkehren können. Und wir versuchen, diese Tatsache zu akzeptieren. Nach einem halben Jahr im Exil habe ich immer noch zwei Teller, zwei Tassen und zwei Löffel. Ich kann mich nicht dazu überwinden, mir Geschirr zu kaufen, als wäre das auch eine Form des Protestes. So geht es auch vielen anderen, die jetzt hier leben. Es ist mir auch bewusst, dass ich – wenn meiner 60-jährigen Oma etwas passieren würde – nicht hinfahren kann. Ich habe jüngere Geschwister. Der älteste von ihnen ist gerade 13. Sie weinen, haben Sehnsucht nach mir. Vor kurzem rief jemand von der Polizei an. Mein Bruder war dran. Man fragte nach mir. Die Nummer hatte ich einst für Rückrufe hinterlassen. Mein Bruder ist noch in der Grundschule und wusste es nicht besser: „Sie ist in der Ukraine, sie ist nicht hier, ruft mich nicht mehr an!“ Danach weine er, rief mich mit der Frage an, ob er mir damit geschadet hätte, entschuldigte sich. Ich musste lange auf ihn einreden, ihn beruhigen, dass er es gut gemacht hatte.

Wenn man Nachrichten liest, weiß man auch nicht, was alles noch auf uns zukommen könnte, bevor wir am Ziel angelangt sind. Es ist schmerzhaft und traumatisierend, aber ich weiß, dass am Ende doch das kommen wird, worauf wir alle so hoffen: Ein Machtwechsel. Es ist mir auch mittlerweile bewusst, dass ich stark und mutig bin, dass ich alles schaffen kann. Ich bin selbstsicherer geworden. Ich merke jetzt, dass meine Entscheidung, ins Exil zu gehen und in Freiheit zu bleiben, richtig war. Jetzt muss ich mich darauf konzentrieren weiterzukommen, um später für Belarus nützlich zu sein.

P.S. Aksana ging gegen das Gerichtsurteil in Berufung, reichte mehrere Beschwerden über das Handeln von Polizeibeamten ein. Sie vermutet, dass in Belarus gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde.

Author: Projektteam August2020

Foto: Projektteam August2020

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