August 2020  — Das Medienprojekt „August2020“ (august2020.info/de) sammelt und veroffentlicht Zeugenaussagen uber Folterungen, Verletzungen und Misshandlungen wahrend der friedlichen Proteste, die nach den Wahlen in Belarus im Jahr 2020 stattfanden.

Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Ihar K.

22 Jahre alt, Wahlbeobachter. „Der OMON-Polizist schubste mich weg mit den Worten: „Es macht keinen Spaß, ihn zu schlagen, er schreit nicht“

Ihar ist erst 22 Jahre alt, aber er hat bereits zahlreiche Ideen für die Entwicklung seines Heimatlandes ausgearbeitet. Bislang braucht sie zwar niemand, aber er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und damit seine Kinder in dem Belarus leben können, von dem Millionen träumen, war es notwendig, die Stimmen bei den Wahlen ehrlich zu zählen. Deshalb hat er sich den Wahlbeobachtern angeschlossen. Fünf Tage voller Angst, Demütigung und Gewalt – das ist der Dank des Staates an ihn. Die Erinnerungen verfolgen ihn bis heute: „Der schrecklichste Moment auf Akreszina ist, wenn eine Beamtin der Spezialeinheit OMON die Frauen entkleidet und sie schlägt. Sie schreit ihnen zu, dass niemand kommen wird, um zu helfen. Und man selbst kann wirklich nichts tun, während man in der Gefängniszelle erstickt“.

„Ich wollte mir die Pulsadern aufschneiden, um im Krankenwagen abtransportiert zu werden. Alles, um nicht dort zu sein“

– Ich war Wahlbeobachter im Bezirk Maskouski in Minsk. Am 9. August, als wir auf das Protokoll mit den Wahlergebnissen warteten, kamen ein Trupp der Spezialeinheit OMON in das Wahllokal.  Die Menschen wurden hinter das Schulgebäude gedrängt, und dann begannen die Verhaftungen. Sie brachten mich, einen weiteren Wahlbeobachter und einen Mann aus der Menge zum Bus. Dort mussten wir uns Beleidigungen anhören. Wir wurden als Schweine, Arschlöcher, Tsikhanouskajas Huren und gekaufte polnische Wichser beschimpft. Einer der Polizisten versuchte, mich zu würgen, aber er war nicht groß genug und konnte mich nicht gut greifen.

Später wurden wir alle in einen Polizeitransporter verfrachtet. Dort wurden wir zum ersten Mal mit Gummiknüppeln und Fäusten geschlagen. Nachdem wir durch die Stadt gefahren waren und die „Sammlung“ von Protestierenden angewachsen war, wurden wir alle nach Akreszina gebracht. Am Ausgang des Polizeitransporters standen OMON-Kräfte in zwei Reihen. Wir rannten zwischen ihnen hindurch und wurden mit Gummiknüppeln auf den Rücken, die Brust und die Beine geschlagen. Wir haben unsere Sachen abgegeben, aber niemand hat uns durchsucht. Mir erlaubte ein Polizist, die Ohrringe aus meinen Ohren zu ziehen, aber sein Kollege riss sie dem anderen aus den Ohren.

In der Gefängniszelle herrschten unerträgliche Bedingungen. Das Licht wurde nicht ausgeschaltet, und nachts wurde eine weitere Lampe angeschaltet. Wir hatten Hunger, bekamen keine Matratzen und keine Hygieneartikel, und wir waren 23 Personen auf fünf Betten. Wir waren in Gefängniszelle 18 im ersten Stock.

Mir erlaubte ein Polizist, die Ohrringe aus meinen Ohren zu ziehen, aber sein Kollege riss sie dem anderen aus den Ohren

– Am nächsten Tag beschloss man, die beiden Gefängniszellen zusammenzulegen und unsere Situation noch erniedrigender zu machen – wir wurden in eine Dreibett-Zelle verlegt. Im 15 Quadratmeter großen Raum befanden sich 46 Personen. Wir saßen dort fünf Stunden lang. Wir mussten unsere Kleidung ausziehen, weil sie nass war, wir bekamen keine Luft, und das Kondenswasser tropfte ständig von den Wänden. Einem jungen Mann wurde schlecht und er wurde aus der Gefängniszelle geholt, aber durch die Essensluke sahen wir, dass er mit Handschellen an den Heizkörper gefesselt wurde und keine Hilfe erhielt.

Dort sitzend erzählten wir uns gegenseitig Geschichten von unseren Verhaftungen.  Einer war nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen, und die Leute rannten auf ihn zu und versuchten, sich in den Eingängen zu verstecken. So wurde auch er festgenommen. Zuvor war dieser Mann nicht an Politik interessiert gewesen und kümmerte sich nicht um die Geschehnisse im Land, aber nachdem er festgenommen wurde, versprach er, in der Freiheit als Erstes zu einer Kundgebung zu gehen. Ein anderer hatte überall schwere Prellungen. Es war erschreckend, dass sich die blauen Flecken nach ein paar Tagen nicht wie üblich gelb, sondern schwarz färbten. Das einzige Mal, dass er über Schmerzen klagte, war, als eine Krankenschwester in die Gefängniszelle kam. Sie sagte, er habe gebrochene Rippen, aber „das sei in Ordnung – du lebst doch noch und kannst stehen“. In diesem Moment versuchten wir, uns diskret zu verhalten, aber man konnte in den Augen sehen, dass alle schockiert und entsetzt waren über das, was geschah.

Von den 23 Personen haben nur drei den Polizeibericht unterzeichnet. Sie waren emotional sehr niedergeschlagen, weil sie glaubten, dass sie freigelassen werden würden. Später trafen wir sie beim Transport nach Schodsina

– Als Wahlbeobachter war mir bewusst, dass eine Inhaftierung möglich ist. Das war mir schon im Juli und im Juni passiert. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich geschlagen und psychisch so unter Druck gesetzt werden würde. Nach fünf Stunden in einer Drei-Personen-Gefängniszelle wurden wir getrennt und in die vorherige Zelle zurückgebracht. Die KGB-Offiziere kamen dort ständig herein. Sie haben uns gefilmt und gefragt, wo wir arbeiten.

Am 10. August kamen sie und boten uns an, einen Polizeibericht zu unterschreiben, in dem stand, dass wir bei der Stele waren und an einer Veranstaltung teilgenommen haben, die die öffentliche Ordnung grob verletzt hat. Sie versprachen, dass diejenigen, die unterschrieben, direkt nach Hause gehen könnten. Ich zum Beispiel wusste nicht, was bei der Stele vor sich ging, wir wurden ja in der Nähe der Schule festgehalten. Was wäre, wenn dort Menschen ums Leben gekommen sind? Womöglich würde man mir den Fall in die Schuhe schieben. Von 23 Leuten haben nur drei unterschrieben. Sie waren sehr niedergeschlagen, und sie glaubten den Versprechungen, dass sie freigelassen werden würden. Später trafen wir sie beim Transport nach Schodsina.

Am 11. August fand eine Verhandlung statt. Es spielte keine Rolle, ob man den Polizeibericht unterzeichnete oder nicht, jeder bekam eine mehrtägige Haftstrafe. Als ich nach einem Anwalt fragte, erhielt ich nicht mal eine Antwort. Auf dem Schreibtisch des Richters lag ein Stapel von Polizeiberichten mit Namen darauf. Der Richter hat nur auf dein Formular geschaut, auf dem das Urteil schon stand. Man tat so, als würde man uns zuhören. Ich habe den Ersatz der Haftstrafe durch eine Geldstrafe beantragt. Das Gericht hat sich nicht einmal dazu herabgelassen, zu sagen, dass der Antrag abgelehnt wurde.

In den Gefängniszellen schliefen wir auf dem Boden, auf den Bänken und im Sitzen. Obwohl man es kaum als Schlaf bezeichnen könnte. Das Geschrei hörte nicht auf, 24 Stunden am Tag. Es gab Geschrei in den Gefängniszellen, wenn Menschen verprügelt wurden, auf den Fluren, wenn sie eingeliefert wurden, draußen. Durch den Türschlitz sahen wir, wie Menschen entkleidet wurden, wie mit Gummiknüppeln auf die am Boden liegenden Festgenommenen eingeschlagen wurde. Die Augen der Einsatzkräfte sahen merkwürdig aus  – ihre Pupillen waren geweitet, und ihr Verhalten war so wild, als hätten man einen Kampfhund trainiert und ihn schließlich von der Kette gelassen. Ich glaube, sie waren auf irgendwelchen Drogen. Dennoch glaubten sie aufrichtig an das, was sie sagten.

„Wir haben uns gearde so das Lachen verkneifen können“

– Am 12. August hat man uns zum ersten Mal etwas zu essen gegeben. Die Anzahl der Menschen an diesem Tag wurde halbiert.  Wir hatten schon gedacht, dass wir unsere Strafe in Akreszina absitzen würden, aber am 13. August wurden wir alle in den Hof getrieben und auf die Polizeitransporter verteilt. Die erste Gruppe hat sich still und leise auf den Weg gemacht. Die zweite Gruppe, zu der auch ich und meine Zellengenossen gehörten, hörte die Schreie derjenigen, die gerade in den Polizeitransporter eingestiegen waren. Wir rannten, mit gesenktem Kopf. Die OMON-Einsatzkräfte brüllten uns an und stellten uns ein Bein. Sobald ich in den Transporter eingestiegen war, drehte mich ein Vertreter der Einsatzkräfte um und schlug mir mit seinem Gummiknüppel etwa 20 Mal auf den rechten Oberschenkel und das Gesäß. Dann schubste er mich weg und sagte: „Es macht keinen Spaß, ihn zu schlagen, er schreit nicht“. Daraufhin schlug er den anderen, den Jüngsten unter uns. Er war ein Waisenkind, und als der Polizist dies hörte, sagte er, er würde ihn nun anstelle seines Vaters erziehen.

Während des Transports nach Schodsina sagten die Einsatzpolizisten die wildesten Dinge. Zum Beispiel, dass die „Tschechoslowakei“ hinter all den Protesten steckt. Wir haben uns gerade so das Lachen verkneifen können, weil wir wussten, dass auf das Grinsen Schläge folgen würden. Sie sagten auch, dass sich die Kundgebungen beruhigt hätten und nur wir Idioten die Zeit absitzen. Sie erwähnten Alexander Tarajkovski und behaupteten, dass er mit einem Sprengsatz unterwegs war.

Als wir zum Gefängnis gefahren wurden, sagten die Polizisten, dass wir gleich „herzlich“ empfangen werden. Auf der Kellertreppe standen 20–30 OMON-Beamte, die für Notfälle zuständig waren. Ich glaube, meine ernsthaften Verletzungen bekam ich dort, weil sie mir auf die Beine, die Brust, den Kopf und den Bauch eingeschlagen haben. Einige von uns mussten über die Jungs springen, die sich zu Boden warfen, damit sie nicht noch mehr abbekamen.

Mit einem Stück gesplitterter Fliese ritzten wir die Telefonnummern von Verwandten auf drei Lederstücke, die in die Jeans eingenäht waren

In Schodsina wurde uns zu essen gegeben. Die diensthabenden Gefängniswärter waren schockiert über die Strafen, die wir auferlegt bekamen. Ich erinnere mich, dass einer sagte, dass diejenigen, die hier eine lebenslange Haftstrafe verbüßten, besser behandelt würden. In den Gefängniszellen sitzend redeten wir darüber, was in Akreszina vor sich ging. Die Jungs erzählten uns, dass einige von ihnen mit Tränengas besprüht worden waren, nachdem die Versuche der Einsatzkräfte, die „Lasst uns raus“-Rufe durch Schläge zu unterdrücken, erfolglos waren. Die Häftlinge konnten ihre Augen mehrere Stunden lang nicht öffnen. 

Dort habe ich auch die Jungs getroffen, die am 9. August hierher gebracht wurden. Da sie innerhalb von drei Tagen nicht verurteilt wurden, kamen sie frei. Mit einem Stück gesplitterter Fliese ritzten wir die Telefonnummern von Verwandten auf drei Lederstücke, die in die Jeans eingenäht waren. Alle 18 haben die Nummern aufgeschrieben.

Ein Mann erregte das Misstrauen aller. Er saß in einer Hose mit Bügelfalten da und war im Gegensatz zum Rest von uns sauber. Er gab die Kontaktdaten seiner Frau an, als ein Mann auf ihn zukam und fragte, ob jemand melden müsse, wo er sei. Die Nummer war schließlich falsch. Er stellte provokante Fragen: „Worüber macht ihr euch Sorgen? Wurdet ihr schon einmal festgenommen? Weshalb wurdet ihr festgenommen?“ Wir haben alles durchschaut und nichts davon besprochen.

Mein Hemd war blau markiert, was bedeutete, dass ich ein Wahlbeobachter war. Diejenigen, die rot markiert waren, galten als besonders aktive Protestierende. Als wir herauskamen, erfuhren wir, dass unsere Familien Pakete an uns schickten und sie angenommen wurden, aber uns nicht erreichten.

Als die Zellentür geöffnet wurde, hatten wir Angst, dass man uns etwas antun würde. Ich wollte mir die Adern aufschneiden, um in einem Krankenwagen abtransportiert zu werden. Alles, um nicht dort zu sein.

– Am 14. August forderte man uns auf, unsere Sachen zu packen und herauszukommen. Wir haben etwas Brot aufbewahrt. Wir bekamen jeden Morgen 6–7 Laibe. Wir bewahrten es auf für den Fall, dass sie uns nichts mehr zu essen geben, dann hätten wir wenigstens Brot. Als ich mich daran erinnerte, sagte der Gefängnismitarbeiter, dass wir es nicht mehr brauchen würden. Um ehrlich zu sein, hatte ich in diesem Moment Angst – war es das, war es das Ende? Wir hatten die Gewalt gesehen und dachten, sie bräuchten keine Zeugen. Wir wurden in ein Zimmer zu irgendeiner Frau gebracht. Sie fragte spöttisch: „Na, willst du etwa nach Hause gehen?“ Dort habe ich eine Erklärung unterschrieben, dass ich, sollte ich jemals bei einer illegalen Massenversammlung gesehen werden, als Kriminaltäter verfolgt werden würde.  

Wir hatten die Gewalt gesehen und dachten, sie bräuchten keine Zeugen

– Freiwillige trafen uns am Ausgang des Gefängnisses. Meine Verletzungen wurden von einer Freiwilligen des Roten Kreuzes untersucht. Sie sagte mir, dass ich dringend zum Krankenhaus müsse, um medizinisch versorgt zu werden. Ich spürte Schmerzen in der Brust, aber ich dachte nicht, dass es etwas Ernstes war. Ich musste aber im Krankenhaus bleiben. Die Ärzte stellten einen Lungenriss, ein gedecktes Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung, eine Thoraxverletzung, Prellungen am Hinterkopf, an der rechten Hüfte, Schürfwunden, Prellungen an Ellbogen und Kniegelenken fest, die ich alle vom Staat geschenkt bekommen hatte. Ich wurde eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen.

Ich habe eine Klage an das Ermittlungskomitee über das gewalttätige Vorgehen der Sicherheits- und Gefängniskräfte geschickt. Nach einiger Zeit wurden diejenigen, die geklagt hatten, erneut festgenommen, und ich beschloss, das Land zu verlassen. Es geschah Ende September. In Minsk war ich ständig in Sorge, ich traute nicht einmal meinen Verwandten. Wenn ein Auto vorbeifuhr, das wie ein Polizeitransporter aussah, geriet ich in Panik.

Auch gegen mich wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Ursprünglich ging es um Artikel 23.34, dann wurde es zu einem Fall über die Finanzierung von Protesten und die Organisation von Massenunruhen. Man kam in das Haus meiner Mutter und erzählte ihr komische Dinge: „Wenn Ihr Sohn zurückkommt, versuchen Sie, ihn aufzuhalten. Rufen Sie diese Nummer an und sagen Sie, dass er hier ist“. Als ob eine Mutter ihren Sohn verraten würde! Später wurde mir zugeschrieben, Strafverfahren abgewendet zu haben.

Das letzte Schreiben der Ermittlungsbehörden kam im Mai. Und jetzt ist meine Mutter zu mir nach Warschau gezogen. Ich stehe unter internationalem Schutz und kann weder nach Belarus noch nach Russland einreisen. Ich vermisse mein Zuhause, aber es geht mir gut. Manchmal bedauere ich, dass ich das Land verlassen habe, aber meine Freunde sagen, dass ich jetzt die Chance habe zu helfen. Wäre ich zu Hause geblieben, wäre ich im Gefängnis gelandet. 

Lass das Herz eines Belarussen schlagen,
Der eine Veränderung will.
Gott wird seine Gebete erhören,
Denn seine Gedanken sind so hell wie der Tag.
Er hat keine Angst vor dem schrecklichen Feind,
Denn der Feind ist auf der dunklen Seite.
Und wir wussten schon als Kinder –
Auf die Nacht folge der Tag.
Über dem blauen Himmel von Belarus
Wird ein Kranichschwarm fliegen.
Sie sind die Vorboten von freien Tagen,
Schönen, klaren, hellen Tagen.
Die schönen Vögel lassen sich weder vom Feind
Noch von der Dunkelheit aufhalten,
Denn in jedem weißen Kranich
Ist die Seele all derer, die für immer gegangen sind.

Ihar Krupski

P.S. Ihar hat das gewalttätige Vorgehen der Sicherheits- und Gefängniskräfte in einer Klage an das Ermittlungskomitee geschildert. Gegen ihn wurde darauf ein Strafverfahren eingeleitet: zunächst auf der Grundlage von Artikel 23.34, dann wurde es zu einem Verfahren wegen Finanzierung von Protesten und Organisation von Massenunruhen

Autor: August2020 Projektteam
Foto: August2020 Projektteam

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