Wer spricht Belarusisch? Es kommt darauf an, wen man fragt

Am 21. Februar ist der „Internationale Tag der Muttersprache“, ausgerufen von der UNESCO. Dieser bietet die Gelegenheit, über die Sprachen nachzudenken, die man spricht, sowie über die Sprachen, die man aktiv nicht nutzt. Und es ist sehr wichtig, zu verstehen, warum das so ist. Während die Mehrheit der Belarus*innen über die schwierigen Umstände ihrer Muttersprache gut im Bilde ist, übersehen Au0enstehende oft diesen Aspekt. Der brasilianische Linguist und Forscher der belarusischen Sprache und Kultur Dr. Paterson Franco Costа erklärt, wie das Belarusische in diese Lage geriet und was seiner Ansicht nach zu tun ist, damit sich die Umstände ändern.

Wenn man auf eine Landkarte von Europa schaut, kann man eine gewisse Regelmäßigkeit feststellen: Franzosen sprechen Französisch, Deutsche sprechen Deutsch und man kann sich kaum einen Italiener vorstellen, der nicht Italienisch spricht. In der Regel folgen die europäischen Grenzen den ethnischen Grenzen, indem sie sogenannte Nationalstaaten bilden. In dem Sinne ist Belarus keine Ausnahme. Über 80% der Bevölkerung sind ethnische Belarussen, deren Muttersprache zumindest theoretisch Belarussisch sein sollte. Die Realität ist jedoch viel komplizierter.

Laut der Volkszählung von 1989[1] bezeichneten sich 71 % der Bevölkerung der damaligen Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik als belarusische Muttersprachler. In nur einem Jahrzehnt, nach der Unabhängigkeit, stieg diese Zahl auf über 85 %. Bis 2019 sank sie auf knapp über 60 %[2]. Das entspricht einem durchschnittlichen Verlust von 1 % pro Jahr seit Beginn des Lukaschenko-Regimes. Nichtsdestotrotz ist die Zahl der belarusischen Muttersprachler*innen hoch genug, damit die Sprache nicht gefährdet wird: Nämlich über 5 Mio. Menschen können Belarusisch sprechen.

Aber, wenn Sie bereits einmal in Belarus waren, dann wissen Sie, dass es nicht stimmt. Und wenn Sie nie vor Ort waren, warum lesen Sie diesen Text und warum gibt es ihn überhaupt?

Warum mehr als fünf Millionen Menschen Belarusisch sprechen können (aber die meisten nicht aktiv)

Die traurige Realität zeichnet sich dadurch aus, dass die belarusische Sprache existenziell bedroht ist. Sie ist sogar in den „UNESCO-Weltatlas der bedrohten Sprachen“ mit dem folgenden Vermerk aufgenommen: „Obwohl sie eine offizielle Sprache eines unabhängigen Landes ist, gilt [sie] aufgrund der umfangreichen Verwendung der russischen Sprache als gefährdet“. [3]. Wenn Sie nach Belarus reisen würden, werden Sie wahrscheinlich fast alles auf Russisch hören und sehen. Wenn Sie jemanden aus Belarus treffen, ist es wahrscheinlich, dass die erste Sprache dieser Person Russisch und nicht Belarusisch sein wird. Wenn man sich die Landkarte noch einmal anschaut, könnte man leicht argumentieren, dass dies auf die geografische Nähe des Landes zu Russland zurückzuführen ist. Aber es scheint, dass die anderen Nachbarn davon unbetroffen geblieben sind. Finnen, Polen und Litauer sprechen beispielsweise ihre Landessprachen, obwohl sie alle die russische Besatzung erlebt hatten. Tatsächlich nimmt der Gebrauch der russischen Sprache in allen ehemaligen Sowjetrepubliken stetig ab. Die Ausnahmen sind Russland und Belarus. Warum ist das so?

Um dieses Paradoxon zu verstehen, warum so viele Belarus*innen sagen, dass sie die Sprache beherrschen, aber nicht sprechen, muss man etwas tiefer in die belarusische Kultur, Geschichte und Politik eintauchen. Der Begriff „rodnoj jazyk“ oder „rodnaj mowa“ bedeutet „die Sprache deines Volkes“ – und so (verstanden die Belarussen auch die Frage in der damaligen Volkszählung. Es kann sein, dass Sie nie Belarussisch sprechen, trotzdem betrachten sie belarussisch als Muttersprache, weil sie für Sie keine Fremdsprache ist. Und außerdem: Wenn Sie in Belarus Belarussisch sprechen, können Sie ins Gefängnis kommen. Ganz im Ernst.

Belarusische Sprache kann in Belarus zur Verhaftung führen

Seit 1994 steht Belarus unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, einem Mann, der den Zusammenbruch der UdSSR als „die größte geopolitische Katastrophe des XX Jahrhunderts“  betrachtet. Stellen Sie sich vor: Ein Mensch wird zum Präsidenten gewählt, der ein Ereignis, das seinem eigenen Land die Unabhängigkeit brachte, als „Katastrophe“ bezeichnet. Diese sollte schlimmer als die beiden Weltkriege, der Holocaust, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sein. Das ist an sich schon eine Katastrophe, zumal, wenn man berücksichtigt, dass er vom Beruf Historiker ist. Seitdem führte Lukaschenko eine Reihe von Reformen durch, die Belarus eigentlich zu einem verlängerten Arm der Russischen Föderation machten:

  • Er verlieh der russischen Sprache, neben der belarusischen [4], den Status der Staatssprache. Seit dem Zeitpunkt, an dem das Land seine Unabhängigkeit erlangte, war Belarusisch die einzige Amtssprache;
  • Er änderte die Staatssymbole von der nationalen vorsowjetischen weiß-rot-weißen Flagge und dem Wappen „Pahonia“ (Deutsch: „Verfolgung“) zu neuen Symbolen, die eindeutig von den Symbolen der BSSR (Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik) inspiriert sind [5]. Es ist anzumerken, dass Belarus die einzige postsowjetische Republik ist, in der eine Änderung der Staatssymbole stattfand. Ihre Nachbarn wie Russland, Litauen, Lettland, Estland und die Ukraine kehrten zu ihren vorsowjetischen Symbolen zurück, die bis zum heutigen Tag als offiziell gelten;
  • Er schuf die Russisch-Belarusische Union und hob die Grenzkontrollen zwischen Belarus und Russland auf. So absurd es auch klingen mag, viele glauben, dass Lukaschenko auf diese Weise plante, Präsident beider Länder zu werden [6].

Je enger die Beziehungen des Landes zu Russland desto mehr gerieten die belarusische Sprache und Kultur in eine immer schwächere Position. Noch im Jahr 2007 merkte der belarusische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski folgendes an:

  • Fast alle Regional- und Bezirkszeitungen werden ins Russische übersetzt. Das gleiche betrifft Radio und Fernsehen. Korrespondent*innen des nationalen Fernsehsenders sprechen mit ihren belarusischsprachigen Gesprächspartnern demonstrativ Russisch;
  • Belarusische Schriftsteller und Dichter sind Verfolgungen im Land ausgesetzt. Ihrе Werke sind inoffiziell verboten und ihr Ruf wird durch die staatlichen Medien diskreditiert;
  • Jährlich werden ca. 100 Schulen, die auf Belarusisch unterrichten, geschlossen. (…) Im Land gibt es keine einzige Universität, an der auf Belarusisch unterrichtet wird. Auf diese Weise wird gegen das Recht auf Bildung in eigener Muttersprache verstoßen. Dabei ist das Recht in der Verfassung verankert.

Seitdem verschlechterte sich die Situation noch mehr, wie es durch die Situation von Bialiatski traurigerweise veranschaulicht wird: er ist jetzt ein politischer Gefangener in einem belarusischen Gefängnis. Dies ist die Folge des härtesten Vorgehens in der neueren Geschichte der Republik Belarus als Reaktion auf die Proteste nach den Wahlen 2020.

Zum Glück können Änderungen in der Politik zu einer bedeutenden Verbesserung der Situation führen

Aber ist Lukaschenko allein daran schuld? Natürlich nicht. Er ist selbst ein Ergebnis einer jahrhundertelangen Russifizierung, die bereits Ende des 17. Jahrhundert durch die Invasion vom Russischen Imperium begann. Jahrhundertlang andauernde Besatzung, Völkermord, Hunger, Sklaverei, Krieg und Zwangsumsiedlung beeinflussten die belarusische Sprache stark. Ich hoffe, dass, nachdem Sie jetzt davon erfahren haben, werden Sie denken: „Es ist in Wirklichkeit ein Wunder, dass immer noch jemand Belarussisch spricht“; denn so ist es. Aber Sie können auch die Frage stellen: „Warum verbietet Lukaschenko nicht ausdrücklich, Belarusisch zu sprechen?“. Letztendlich ist es die Staatssprache, die in Grund- und allgemeinbildenden Mittelschulen immer noch obligatorisch ist.

Tatsache ist, dass das Lukaschenko-Regime die belarussische Sprache braucht. Denn es ist das Einzige, was die Nation wirklich von ihren Nachbarn unterscheidet. Ohne die Sprache wird sich Belarus nicht von Russland unterscheiden. Und die Gebiete von Belarus werden zu russischen Föderationssubjekten, wie es Wladimir Putin persönlich bereits vorgeschlagen hat [7]. Eine solche Wende wäre ein Alptraum für Lukaschenko, nicht nur weil Belarus seine Souveränität aufgeben würde, sondern auch, weil er Angst hat, seine Macht zu verlieren.

Die gute Nachricht ist, dass die belarusische Sprache das alles überstanden hat; sie wird auch Lukaschenko überleben. Unter einer Regierung, die ihre belarussischsprachige Bevölkerung nicht verfolgen wird, (und das ist nicht zu viel verlangt), wird die Belarussische Sprache den größten Teil ihrer verlorenen Positionen zurückgewinnen. Wenn eine national orientierte Regierung an die Macht kommt und Lukaschenkos Reformen außer Kraft setzt, wie z. B. den Status der zweiten Staatssprache für die russische Sprache aufhebt (mit dem Kalkül, dass Russland zu geschwächt sein wird, um „zur Rettung zu kommen“), ist zu erwarten, dass die Belarussen in weniger als einem Jahrzehnt hauptsächlich in ihrer Landessprache wie auch ihre europäischen Nachbarn sprechen werden.

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[1] Goskomstat. Ergebnisse der Volkszählung in der UdSSR. Moskau: Finanzen und Statistik, 1990

[2] Belstat. Gesamtbevölkerung (…) in der Republik Belarus. Minsk: NSCRB, 2020

[3] UNESCO. Atlas of the World’s Languages in Danger. Paris: UNESCO, 2010

[4] Navumchyk, S. Sieben Jahre der Renaissance oder Fragmente der neuesten belarusischen Geschichte (1988-1995). Warschau: Belarussische Wedomosti, 2006

[5] Kotljarchuk, A. The Tradition of Belarusian Statehood: Conflicts about the Past of Belarus. In: Rindzeviciute, E. (org). Contemporary Change in Belarus. Huddinge: Baltic & East European Graduate School, Södertörns högskola, 2004

[6] Feduta, A. Lukaschenko: Politische Biographie. Moskau: Referendum, 2006

[7]  ebenda

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