August 2020  — Das Medienprojekt „August2020“ (august2020.info/de) sammelt und veroffentlicht Zeugenaussagen uber Folterungen, Verletzungen und Misshandlungen wahrend der friedlichen Proteste, die nach den Wahlen in Belarus im Jahr 2020 stattfanden.

Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Aljaxej B.

42 Jahre alt, Unternehmer. „Während zwei von ihnen mich zusammenschlugen, rief der dritte: ‚Bringt diesen Mistkerl um!‘“

Am Abend des 10. August beschloss Aljaxej, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: sich mit einem Freund zu treffen, um gemeinsam einige Störungen an seinem Auto zu beheben, und dann die Lage in der Stadt zu erkunden. So waren sie in der Nähe des Einkaufszentrums „Riga“ und des Bangalore-Platzes, neben der Stele und dem Büro des staatlichen Rundfunks „Belteleradio“, im Bezirk Kamarauka und wieder in der Nähe von „Riga“. Bei der Festnahme von Aljaxej verursachten die Einsatzkräfte mit Absicht einen Verkehrsunfall und verprügelten ihn. Der Mann schaffte es nicht bis zur Polizeiwache – er kam erst nach der Operation in der Notaufnahme wieder zu sich, nachdem man sein Ohr genäht und seinen Finger buchstäblich aus Bruchstücken wieder zusammengesetzt hatte.

„Ich kam wieder zu mir, als sie mich in den Krankenwagen luden, und die Ärztin hatte so große Augen“

– Als mein Freund und ich auf der Kuibyschew-Straße im Stau feststeckten, kamen viele Einheimische auf die Balkone heraus und unterstützten uns mit Rufen und Applaus. Nach einer Weile wurde klar, dass sich die Ereignisse in der Nähe von „Riga“ dem Ende neigten, obwohl dann die Leute aus den Innenhöfen angerannt kamen. Ich und ein paar andere Fahrer wendeten unsere Autos als Vorbereitung, um wegzufahren, hupten aber weiter. Als die Planenfahrzeuge der inneren Truppen aus der Richtung der Kulman-Straße und des Einkaufszentrums „Monetka“ angefahren kamen, begannen die Einsatzkräfte in der Nähe von „Riga“, einzupacken.

Mein Freund und ich beschlossen, wegzufahren, um nicht in die „Zange“ zu geraten. Wir fuhren in der Gegend herum und kehrten zu „Riga“ zurück. Dort feierten bereits die Menschen: Hurra, wir haben die „Riga“ verteidigt, alles ist cool und großartig. Auch wir waren begeistert und fuhren noch einmal am Belteleradio-Büro vorbei. Es gab kein Mobilfunksignal, aber solange es bei „Riga“ und hier ruhig war, sollte ja alles wirklich gut sein.

Als wir im Café „Jolki-Palki“ etwas Kleines aßen, lernten wir einen jungen Mann mit einer Flagge kennen. Ich weiß noch, dass er sogar eine Steinschleuder in der Tasche hatte (lacht). Wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass er auch bei „Riga“ gewesen war. Wir hatten ja gewonnen, warum sollten wir also den jungen Mann nicht nach Hause fahren? Er wohnte in der Nähe der Metro-Station Puschkinskaja — ohne irgendwelche Fragen sprangen wir ins Auto und fuhren los.

„Diesmal zielt der Mann in der Sturmhaube mit einer Pistole auf mich, statt mit einem Gummiknüppel“

Ich fahre um die Einsatzfahrzeuge herum, die sich langsam aus der Richtung der Puschkinskaja bewegen, und fahre von der Seite des Bezirks Schdanowitschy zur Kreuzung neben der Metro-Station Kamiennaja Horka. Ich halte an einer roten Ampel an und mein Freund schubst mich an, so nach dem Motto, schau mal, wo wir angekommen sind. Die komplette Prytyzkaha-Straße ist von „Kosmonauten“ abgesperrt. Sie schlagen auf ihre Schilde, dahinter stehen Menschen mit Waffen und einem Wasserwerfer. Das alles bewegt sich auf uns zu und auf der rechten Seite rennen die Leute.

Ich bin erstarrt, mein erster Gedanke ist, ich muss ein paar Fotos machen, um sie den Jungs zu zeigen. Die Einsatzkräfte müssen mitbekommen haben, dass ich filme, und die vom äußeren Ende der Reihe kamen auf uns zugerannt. Ich fahre schnell nach vorne, doch aus der Gegenfahrbahn kommt ein Fahrzeug der GUBOPiK (Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption) angefahren und hält vor einer Gruppe von Einsatzkräften an. Sie wussten anscheinend noch nicht, dass man bereits ein Problem mit mir hatte, aber sie merkten es schnell. Ich war verblüfft: Erst schlagen sie auf das Auto ein, und jetzt werden wir von Männern in Schwarz und Sturmhauben in einem Auto ohne Blinklichter verfolgt!

Ihr Auto war leistungsstärker, also holten sie uns schnell ein. An der ersten Kreuzung kesseln sie uns ein, springen aus dem Fahrzeug und schlagen mit Stöcken auf mein Auto ein. Ich lege den Rückwärtsgang ein und fliege zur nächsten Kreuzung, aber sie holen wieder auf und blockieren die Straße. Ohne Signale und Warnungen, dass man anhalten soll. Durch diese Situation erstarrte ich in Angst.

Ich wollte so schnell wie möglich fliehen, mich nicht ergeben oder mich für irgendetwas entschuldigen. Irgendwie gelang es mir, sie abzuhängen, aber dann nahm ein Auto mit Blinklichtern die Verfolgung auf. Irgendwann fuhr ein Fahrzeug ohne Kennzeichen neben meinem Auto her und ein Mann mit einem Gummiknüppel lehnte sich aus dem Fenster und schlug auf die Spiegel und die Windschutzscheibe ein. Wir fahren mindestens 60 km/h und er macht so etwas! Ich weiche aus, aber sie drängen weiter und holen wieder auf. Diesmal zielt der Mann in der Sturmhaube mit einer Pistole auf mich, statt mit einem Gummiknüppel. Verdammt. Wie ein bescheuerter und sehr seltsamer Film.

„Einer dieser Teufel nahm mir das Handy weg und fing an zu schreien“

– Mir kam der Gedanke, dass wir zur Menschenmenge fahren sollten, dann würden diese Wilden uns in Ruhe lassen. Ich wollte umdrehen, um in die Richtung der Leute zu fahren, aber das Auto wurde wieder zurückgeschoben. Um einen Unfall zu vermeiden, bog ich in die Richtung der Ringstraße ein und stellte fest: Ich weiß nicht, was jetzt kommt. Einer der Jungs schlug vor, dass wir auf die Autobahn Richtung Hrodna fahren sollten. Wir passieren die Brücke auf der Prytyzkaha-Straße, ich werde wieder gerammt, das Auto fliegt an den Straßenrand. Ich kann kaum das Lenkrad halten, werde wieder abgeschnitten und gegen den Betonblock zurückgestoßen.

Wir sind schockiert, sie ziehen uns aus dem Auto und beginnen uns zu schlagen. Nicht nur, dass wir in einen Unfall verwickelt wurden, der von den Einsatzkräften angezettelt wurde, wir werden auch noch verprügelt. Einer dieser Teufel nahm mir das Handy weg und fing an zu schreien, dass ich ein verdammter Koordinator sei, dass man mich seit langem verfolge und dass ich erledigt sei. Die Schreie wurden von Handschlägen und Fußtritten begleitet. Ich fing an, mich zu beschweren, fragte, wer sie überhaupt sind. Als ich mehrere richtig schwere Treffer abbekam, sagte ich, dass ich das Handy nicht entsperren würde, also könnten sie mit mir machen, was sie wollten, sogar mich töten.

Daraufhin wurden sie sehr sauer. Sie zertrümmerten das Handy und fingen an, mich richtig hart zu treten. Während zwei von ihnen mich zusammenschlugen, rief der dritte: „Bringt diesen Mistkerl um!“. Ich lag auf der Seite und bedeckte meinen Kopf mit meinen Händen. Deshalb haben die Hände das Schlimmste abbekommen. Dann setzte sich einer von ihnen auf meine Seite und fing an, mir mit der Faust auf den Kopf zu schlagen. Das Ohr war in einem solchen Zustand, dass es im Krankenhaus genäht werden musste.

Ich wachte auf dem Beifahrersitz eines Polizeiautos auf, und zwar davon, dass man mich mit Schlägen ins Gesicht „wieder zu Bewusstsein brachte“. Als ich anfing, mich zu bewegen, begann der Polizist zu schreien, wer ich denn sei, dass man mich zur Polizeiwache bringen würde, und dass ich dort erledigt sein würde. „Für wen arbeitest du? Wie koordinierst du die Proteste? Wer bezahlt dich?“ Ich sage, dass ich auf dem Heimweg war, aber mit dieser Gesetzlosigkeit werden sie nicht ungestraft davonkommen. „Ach, wir kommen nicht ungestraft davon?“ Und los geht’s. Ich hatte wieder einen Blackout.

„Nun, wo sind diese ‚Helden‘“?

Ich kam wieder zu mir, als sie mich in den Krankenwagen luden. Ich erinnere mich, dass die Ärztin so große Augen hatte: Mein Finger war verdreht, meine Arme ließen sich nicht bewegen, ich war ganz geschwollen, konnte kaum sprechen. In der Notaufnahme begann ich zu überlegen: Soll ich weglaufen oder was? Wenn sie mich von der Straße holen wollten, könnten sie das auch hier tun. Was soll man da tun? Vielleicht hätte ich aus dem Krankenwagen fliehen sollen? Aber ich kann nur mit einem Auge sehen, mein ganzer Brustkorb tut weh, ich kann mich nicht bewegen, im Kopf ist ein Chaos und ich bin völlig desorientiert.

Während ich zum Röntgen gebracht wurde, begleitete mich ein Polizist. Als ich in die Notaufnahme zurückkehrte, hörte ich: „Nun, wo sind diese ‚Helden‘“? In der Tür stand ein Polizist mit einem sehr hohen Rang. Es war wohl ein Polizeioberst, denn die Sterne waren fett und groß. Neben ihm stand ein Kerl in Zivilkleidung, aber es war klar, dass er kein gewöhnlicher Soldat war.

Und was soll man da tun? Einen Anfall vortäuschen? Aber auch ohne einen Anfall war es schlimm — Atemnot, Herzklopfen… So ein „fischiger“ Zustand, wie nach einem Sturz aus großer Höhe auf den Rücken. Also öffnete ich meine Augen einfach nicht. Sie standen da eine Weile, schauten zu und versuchten mich aufzurufen, aber der Arzt kam und ich wurde auf die Intensivstation gebracht.

Die nächste Begegnung mit der Polizei war nach einer Operation an meiner Hand, als ich von der Intensivstation auf eine Krankenstation verlegt wurde. Irgendein Typ kam herein und verlangte, dass ich ein vorläufiges Protokoll unterschreibe. Dort stand, dass ich mich beteiligt hatte, dass solche und solche meiner Handlungen aufgenommen wurden. Er sagte, dass ich nichts zu befürchten hätte, dass es nur eine Formalität sei, dass es nur ein paar Fragen an mich gäbe und dass ich nur an zwei Stellen unterschreiben müsse. Ich sage, dass ich nach der Operation nichts unterschreiben werde — auf Wiedersehen. „Es dauert nur fünf Minuten!“ – „Auf Wiedersehen!“. Er war beleidigt und ging.

„Wenn sie mich mitnehmen, komme ich nicht mehr ins Krankenhaus zurück“

Die Zahl der freiwilligen Helfer in der Notaufnahme war erstaunlich. Dort gab es eine Menge geschlagener und verletzter Menschen — es kamen ständig Freiwillige. Sie brachten mal Wasser und Obst, mal einige Leckereien, und unterhielten uns in jeder Hinsicht. Sie waren auch bei der Kontaktaufnahme mit einem Anwalt behilflich. Er brachte uns auf den neuesten Stand und erläuterte die Situation im Land. Ein paar Tage später nahmen wir die Verletzungen auf und schrieben eine Erklärung an das Ermittlungskomitee des Frunsenski-Bezirks. Mir wurde nichts an die Hand gegeben, ich konnte nur ein Foto von den beiden Seiten des Antrags an das Ermittlungskomitee machen.

Das war ungefähr am 18. August. Am Tag nach meinem Besuch beim Ermittlungskomitee kommen zwei Personen in mein Krankenzimmer, gefolgt von dem Arzt. Ich sitze zu diesem Zeitpunkt auf dem Flur und spreche mit dem Anwalt. Mir wurde klar: Wenn sie mich mitnehmen, komme ich nicht mehr ins Krankenhaus.

Als man mir vorschlug, die Stadt zu verlassen und an einen sicheren Ort zu gehen, wo man mich auch medizinisch versorgen könnte, packte ich meine Koffer und beschloss, ohne zu zögern zu gehen. Auf dem Handy funktionierte nur das WLAN, den Mobilfunk schaltete ich aus. Nach einer weiteren Woche bot man mir an, das Land im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms zu verlassen. Ich hatte bereits ein Visum, aber man hat uns extra humanitäre Visa ausgestellt und Bustickets gekauft.

An der belarusischen Grenze gab es viele Fragen: „Warum fahren Sie dorthin, was machen Sie?“ Ich sagte, dass ich mich wegen eines Autounfalls behandeln lassen will, dass ich das Visum über ein Reisebüro organisiert hatte und dass die einzigen Sachen, die ich bei mir hatte, ein Rucksack mit persönlichen Gegenständen war. Als wir an die Schranke an der polnischen Grenze heranfuhren, kam ein Grenzbeamter in den Bus und rief unsere Namen auf. Er überprüfte die Pässe, sagte etwas über sein Funkgerät und der Bus fuhr zum Hauptgebäude und nicht zum Kontrollpunkt. Alle Passagiere waren schockiert. Vor dem Gebäude stand ein Krankenwagen. Man holte uns heraus und überprüfte unseren Zustand. Ich wurde umgehend mit einem Tropf versorgt und mit Vollgas und Blinkleuchten ins Krankenhaus gebracht. Danach verbrachte ich noch vier Monate in der Rehabilitation.

P.S. Gegen Aljaxej wurde ein Strafverfahren wegen Widerstands gegen Polizeibeamte, Verursachung einer Notsituation und zahlreicher Verkehrsverstöße eingeleitet. Er wird auch verdächtigt, Massenproteste organisiert und koordiniert zu haben. Aljaxejs Geschäft wurde beschlagnahmt. Das Auto, in dem er verhaftet wurde, wurde erst Ende August auf einem geschlossenen Abschlepphof gefunden. Es wurde als Beweismittel herangezogen.

Autor: August2020 Projektteam

Foto: August2020 Projektteam

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