August 2020  — Das Medienprojekt „August2020“ (august2020.info/de) sammelt und veroffentlicht Zeugenaussagen uber Folterungen, Verletzungen und Misshandlungen wahrend der friedlichen Proteste, die nach den Wahlen in Belarus im Jahr 2020 stattfanden.

Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Wjatscheslaw

29 Jahre alt, Unfallchirurg. „Ich habe schon alle möglichen Verletzungen gesehen, aber solche Gewalt noch nie.“

Wjatscheslaw (Name geändert auf Wunsch des Protagonisten) ist ein Unfallchirurg. Nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 arbeitete er als Freiwilliger in einem Krankenhaus in Minsk und war in einem Freiwilligenlager in der Nähe von Schodsina im Einsatz. Er sah die Verletzungen, die die Betroffenen auf der Straße, in den Polizeitransportern, in Akreszina, in Schodsina erlitten: Schuss- und Splitterwunden, großflächige Hämatome, Prellungen, Kopfverletzungen, Schlagstockspuren an den Seiten, am Gesäß und am ganzen Körper. Nach all dem, was er gesehen hatte, veränderte sich Wjatscheslaws Meinung über die Miliz fundamental.

„Wir schwanken zwischen Angst und Hass gegenüber der Situation“

Mit dem Traumazentrum hatte ich eine Abmachung: Sie rufen mich an, wenn ich gebraucht werde. Aber das Internet war blockiert, es kamen beunruhigende Nachrichten, und ich konnte es nicht ertragen – gegen 23 Uhr fuhr ich selbst hin. „Na, bist du auch gekommen, um dich zu verstecken?“, scherzten die Kollegen. In den Krankenhäusern arbeiteten in dieser Nacht alle Ärzte, Krankenpfleger, Praktikanten und Azubis. Keiner blieb in den Ärztezimmern sitzen. Nervös und angespannt warteten alle am Eingang für die Rettungswagen. Manchmal kamen direkt viel Wagen auf einmal, obwohl unser Krankenhaus eigentlich als Reserve diente. Die meisten Patienten wurden in die Notfallklinik, die Neurologie und das Militärkrankenhaus gebracht.

Es war allen klar, dass es zu Zusammenstößen kommen würde, aber niemand war auf Schuss- und Splitterverletzungen vorbereitet

Es war allen klar, dass es zu Zusammenstößen kommen würde, aber niemand war auf Schuss- und Splitterverletzungen vorbereitet. Das war wie in irgendeinem Film. Wir hörten Explosionen, sahen Lichtblitze. Ich versorgte und vernähte die Wunden. Ich wollte sogar mit einem Verbandskasten in die Innenstadt fahren, aber der Verkehr war in die Richtung blockiert, also drehte ich um. Diese drei Nächte verschmolzen zu einer einzigen, endlos langen Nacht. Nach 4 Uhr morgens ging ich nach Hause.

Wjatscheslaw blättert auf seinem Handy durch die Bildaufnahmen: Auf der Brust eines Mannes in der Herzgegend ist ein Kugelabdruck zu sehen, der ungefähr so groß wie eine 2-Cent-Münze ist [ca. 18mm]. Hätte der Mann noch näher dran gestanden, so der Arzt, wären die Konsequenzen schrecklich gewesen. Einige flüchteten über Zäune und verletzten sich dabei, andere wollten sich vor Knüppelhieben schützen und hatten kaum noch heile Stellen an den Armen. Die superschweren Fälle wurden direkt in den OP-Saal gebracht. Ein Mann hatte eine zertrümmerte Ferse. Stellt euch vor, erinnert sich Wjatscheslaw, anstatt einer Ferse ist da nichts, nur Knochenstücke, Fleisch, Haut.

Es gab welche mit Schussverletzungen. Einer hatte ein Gummigeschoss (hart, fast wie Plastik!) im Bein, im Oberschenkel; der Patient holte es im Rettungswagen selbst heraus und steckte es in seinen Rucksack. Die Ärzte schauten sich diese Trophäe mit Erstaunen an: Niemand hätte sich vorstellen können, dass man auf friedliche, unbewaffnete Zivilisten schießen würde.

– Bei einem jungen Mann musste ich die Augenbraue nähen: Er ging abends mit seinem Vater in den Laden, sein Vater wurde verhaftet, er wurde verprügelt. Am meisten erstaunte mich der psychologische Zustand der Menschen. Sie hatten Angst vor uns wie vor dem Feuer, bis sie die weißen Armbänder sahen. Alle Ärzte trugen weiße Bänder und alle bemühten sich maximal, ihnen zu sagen: „Habt keine Angst, wir sind keine Feinde.“ Zu dem Zeitpunkt war unklar, wer auf welcher Seite stand. Deswegen sind nicht alle Leute in die Krankenhäuser gefahren. Sie suchten nach befreundeten Medizinern und baten sie, die Wunden zu Hause zu versorgen. Das war an der Grenze zu einem Verbrechen. Aber nicht mal den Ärzten vertrauten die Leute, sie hatten Angst, dass man sie verraten würde.

Am Anfang empfahlen auch wir denjenigen, die selbst zu uns kamen und Hilfe suchten, zu melden, dass sie zu Hause verletzt wurden, damit das Ermittlungskomitee sie später nicht verfolgen würde. Erst ein paar Tage später kam die Information, dass man das nicht verheimlichen durfte und dass alles dokumentiert werden musste. Aber auch dann hatten wir Angst um die Leute, dass es noch schlimmer werden könnte: Das Ermittlungskomitee forderte später die Traumazentren auf, die Namen aller Personen zu melden, die an diesen Tagen eingeliefert worden waren.

Die Ärzte waren nicht weniger schockiert als die Betroffenen. Die Atmosphäre war sehr angespannt. Es kamen Leute aus allen Altersgruppen. Und alle waren verängstigt. Sie hatten Angst davor, nach Hause zurückzukehren. Einigen wurde angeboten, bis zum Morgen im Krankenhaus zu bleiben. Jede Nacht nach dem Dienstende fuhr Wjatscheslaw die Patienten nach Hause. Und dann, als das Internet zurück war, wurden die Menschen von einer Lawine von „Kriegsberichten“ von den drei Nächten überrollt. Mütter suchten nach ihren Söhnen, Ehefrauen nach ihren Ehemännern, in Krankenhäusern, Leichenhäusern, Polizeistationen und Gefängnissen. Freiwillige Helfer stellten Listen der vermissten Personen zusammen. An jenem Tag bildeten Hunderte von Frauen, gekleidet in Weiß und mit Blumen, eine Menschenkette, um gegen das gewaltsame Vorgehen der Einsatzkräfte zu protestieren.

Nach all diesen Erlebnissen war es unrealistisch, unpolitisch zu bleiben. Sogar meine Mama hat an friedlichen Protesten teilgenommen

– Ich weiß noch, ich sah junge Frauen mit Blumen und fing an, zu weinen. Davor kehrte ich emotional ausgelaugt aus dem Krankenhaus nach Hause zurück. In dem Moment hatte ich gar keine Ahnung. Man ist einfach ständig in einem Schockzustand. Die Erkenntnis, was geschehen war, kam erst nach einer Weile. Nach all diesen Erlebnissen war es unrealistisch, unpolitisch zu bleiben. Sogar meine Mama hat an friedlichen Protesten teilgenommen. Sie rief mich an: „Ich bin am Puschkin-Platz“. Sie sagte, dass sie sonst ihren Kindern nicht in die Augen blicken könnte. Vier Kinder hat sie.

Zur gleichen Zeit sah man auch Ärzte in weißen Kitteln in den „Solidaritätsketten“. Laut Wjatscheslaw kam das alles ganz spontan. Obwohl der Gesundheitsminister diese Protestaktion der Mediziner damals als „gestellt“ bezeichnete.

– Wir versammelten uns vor der Belarussischen Staatlichen Medizinischen Universität, um über den Austritt aus der Gewerkschaft zu diskutieren, die sich in keiner Weise für die Ärzte einsetzte, die auch in diesen höllischen Kessel geraten waren. Die weißen Kittel waren unsere Passierscheine für das Treffen. Entlang der Straße hatten sich bereits Menschen mit Blumen aufgestellt. In Erwartung unserer Kollegen schlossen wir uns der spontanen Aktion an. Unmittelbar danach tauchte der (inzwischen ehemalige) Gesundheitsminister Karanik auf. Er ging schnell durch unsere Reihen und winkte hastig mit der Hand, so nach dem Motto, folgt mir alle. Aber niemand folgte ihm: „Wenn du reden möchtest, lass uns hier reden.“ Wenige Minuten später kamen Journalisten von staatlichen Sendern an, und er erklärte ihnen, dass er angeblich zu einem Dialog bereit sei, aber wir das nicht wollten. Danach erschienen zwei Polizeitransporter. Wir kamen damals zu dem Schluss, dass wenn jetzt auch die Ärzte verhaftet werden, dann ist alles vorbei. Aber an dem Tag hat man uns nicht angefasst.

In der Nacht zum 14. August wurde damit begonnen, die Inhaftierten massenhaft aus den Gefängnissen zu entlassen. Als Wjatscheslaw hörte, dass ärztliche Hilfe benötigt wurde, fuhr er zum Gefängnis in Schodsina. Die Leute wurden nachts freigelassen. Im Durchschnitt waren es 4 Personen alle 20 Minuten. Wjatscheslaw war von 18 Uhr bis 9 Uhr morgens dort.

– Es gab wenig Bedarf an dringenden chirurgischen Behandlungen, aber ausnahmslos jeder brauchte einen Psychologen. Das galt sowohl für die, die freigelassen wurden, als auch für diejenigen, die warteten, und sogar für uns, die einfach nur als Helfer dabei waren. Was ich gesehen habe? Alles, worüber später in den staatlichen Medien berichtet wurde: „Man hat die Gesäße mit blauer Farbe bemalt.“ Blutergüsse am ganzen Körper – vom Scheitel bis zu den Zehen – alles blau. Rücken, die mit Knüppelschlägen übersät waren. Ich hatte noch nie im Leben solche blauen Flecken gesehen! Der Arzt erinnert sich an Menschen anhand ihrer Diagnosen. Ich kann mich nicht mehr an die Gesichter erinnern, aber ihre Verletzungen habe ich heute noch vor den Augen. Solche Gräueltaten kann ich mir nicht erklären. Damals gab es keine Zeit für Fotos, aber jetzt bereue ich, dass ich die Spuren der Gewalttaten nicht dokumentiert habe.

Wir hatten alle einen Kloß im Hals, manchmal ballten sich unsere Fäuste wie von selbst. Weil vor dir ein zusammengeschlagener 50-jähriger Mann weint. Nicht vor Schmerz, sondern wegen des Gesagten: Dass das ganze Land auf den Beinen ist, dass er nicht einfach so zusammengetreten wurde, dass es alles nicht umsonst war. Weil vor den Gefängnismauern ein 12-jähriges Mädchen und ihre Mutter die ganze Nacht auf den Vater warten. Weil es noch gruseliger ist, in der Unwissenheit zu Hause zu bleiben. Diese Absurdität zermürbte mir den Kopf. Die Leute legten Gymnastikmatten auf den ungemähten Rasen vor dem Gefängnis und schliefen dort. Ich erinnere mich an eine Frau, die aus dem Gefängnis kam und 8 Stunden lang wartete, bis ihr Mann freigelassen wurde. Auch er kam völlig zusammengeschlagen heraus, mit schmerzenden Knien. Ich erinnere mich an eine Mutter, die endlich ihren Sohn wiedersah. Zerschrammt, aber Hauptsache noch am Leben. Sie klammerte sich an ihn fest und weinte. Wir versuchten, sie wieder zu beruhigen: „Ist alles gut, setzen Sie sich doch daneben hin und wir untersuchen ihn.“

Oftmals mussten wir den Menschen helfen, die auf ihre Verwandten warteten, denn irgendwann kam es bei ihnen zu Nervenzusammenbrüchen

Oftmals mussten wir den Menschen helfen, die auf ihre Verwandten warteten, denn irgendwann kam es bei ihnen zu Nervenzusammenbrüchen. Es kamen laufend Psychologen vorbei und fragten, ob alles in Ordnung war. Aus allen Ecken kam Hilfe. Ich erinnere mich an einen Mann, der 6 Stunden lang wartete, um irgendeinen der Verhafteten nach Hause zu fahren. Und er war nicht der einzige. Einer dieser Fahrer brachte auch uns wieder nach Hause. Es gab eine riesige Menge Leute. Und es meldeten sich so viele Ärzte, dass wir einen Dienstplan aufstellten und vereinbarten, wer für wen einspringen würde.

Es war eine ganze Stadt. Tische, Stühle, Ladegeräte – das alles ließ man für andere zurück und notierte seine Telefonnummer, ohne dabei wirklich zu erwarten, dass man die Sachen wiederbekommt. Man brachte so viele Medikamente, dass die Ärzte sie irgendwann nicht mehr annehmen wollten. Es hätte für drei ganze Krankenhäuser gereicht. Eine ganze Küche voller Essen. Eine Familie brachte um 1 Uhr nachts einen ganzen Kessel voller Pilaw [Reisgericht], den man 5-6 Stunden lang zubereitet hatte. So ein riesiger (da breitet Wjatscheslaw die Arme aus) richtiger Pilaw! Er war noch heiß. Und es haben alle was zu essen bekommen. Und Thermoskannen mit Tee. Ein ganzes Lager voller Wasser. Decken, Jacken, Schuhe, Schnürsenkel. Man brachte ständig irgendwas vorbei. Und zwar in unglaublichen Mengen.

– Die Nächte waren damals kalt. Wir wickelten uns in drei Decken ein, während die Häftlinge in Shorts und T-Shirts herauskamen, barfuß. In den ersten Sekunden waren sie unter Schock, sie hatten Angst, dass man sie jetzt wieder irgendwohin bringen würde, sie sahen eine Menge Leute, suchten schon mit den Augen nach den Polizeitransportern, nach einem Fluchtweg. Und als ihnen dann klar wurde, dass sich die ganzen Menschen für sie versammelt hatten, schossen die Emotionen noch weiter in die Höhe – aus dem Negativen ins Positive. Alle übersät mit blauen Flecken, aber irgendwie euphorisch, glücklich.

Man musste sie alle beruhigen. Auch untereinander. Bei allen, die aus dem Gefängnis kamen, lag der Blutdruck bei 200 zu 120, 180 zu 100. Alle voller Adrenalin, wegen dem Stress, der Angst. Für alle gab es Blutdrucktabletten, man versorgte die Wunden. Männer, Frauen, alte Menschen – sie waren alle verprügelt worden. Manche weniger, manche mehr, aber alle von ihnen. Einige hatten Kopfwunden, aber es war zu spät, um sie zu nähen – es waren schon mehr als 24 Stunden vergangen. Bei jedem Zweiten – Durchfall. Man gab ihnen nur Brot und Wasser. Aus irgendeinem Grund konnten sie dieses Brot nicht verdauen. Aber über die Haftbedingungen sagten sie: „Hier scheint es gar nicht so schlecht zu sein.“ Im Vergleich zu Akreszina – wie ein Sanatorium oder Urlaubsort. Hier wurden sie menschlicher behandelt. Es war nicht so eine Hölle. Während es dort 60 Leute in einer Zelle waren, hatte man hier 10 Leute in einer Zelle für 4.

Jeder bekam direkt einen Beutel mit dem Nötigsten – Zahnpasta, Zahnbürste, Wasser und Lebensmittel. Man bot ihnen Decken, Kleidung, Möglichkeiten zum Telefonieren, Mitfahrgelegenheiten an. Und man versuchte, alle zu befragen, wen sie gesehen hatten, mit wem sie zusammensaßen, an wessen Namen sie sich erinnerten. Die Freiwilligen erstellten laufend Namenslisten nach Zellen und waren ständig in Kontakt mit dem Gefängnis in Akreszina.

In dem Moment änderte sich die Stimmung in der Öffentlichkeit: Man überredete alle, hinzufahren und die Gewalttaten zu dokumentieren, alles an die Öffentlichkeit zu bringen und sich nicht zu verstecken

In dem Moment änderte sich die Stimmung in der Öffentlichkeit: Man überredete alle, hinzufahren und die Gewalttaten zu dokumentieren, alles an die Öffentlichkeit zu bringen und sich nicht zu verstecken. Denn einige wurden nicht einmal nach ihren Ausweisdaten gefragt, also standen sie gar nicht auf den Listen. Und von Anwälten gab es Ratschläge, wie man eine Anzeige richtig verfasst und wohin man sich wenden kann.

Ich glaube nicht, dass es heute einen einzigen Belarusen oder Belarusin gibt, in dessen Freundes- oder Verwandtenkreis noch niemand eine Haftstrafe durchmachen musste. Bei den Protesten wurde jeder Zweite mitgenommen. Ich war auch bei fast allen Märschen dabei. Bin auch von den OMON-Leuten weggerannt. Nach den Wahlen nahm ich eine aktive Haltung ein. Wie kann man in so einer Situation zu Hause sitzen? Selbst diejenigen, die nicht auf die Straße konnten, waren am PC im Einsatz und informierten die Leute, wo es Hinterhalte gab und wo man nicht hingehen sollte. Wie durch ein Wunder konnte ich mehrmals solche Absperrungen vermeiden.

Ich hatte immer einen Verbandskasten dabei, mit Bandagen und Wasserstoffperoxid. Ich bin aus „großer Liebe“ in die Medizin gegangen und konnte nicht verstehen, wie man einen Arzt verprügeln konnte, weil er helfen wollte. Aber mit einem weißen Kittel oder einem roten Kreuz wollte ich nicht aus der Menge herausstechen und mich in Gefahr begeben. Andererseits kenne ich einen Arzt, der einfach nach Hause ging und dann in einer Gefängniszelle landete. Später schrieb er im Chat: „Wenn ich vorher nicht geglaubt hatte, dass sie einen einfach so auf dem Heimweg mitnehmen können, dann kann ich jetzt sicher sagen: KÖNNEN SIE. Wenn ich vorher nicht geglaubt habe, dass irgendwelche zwielichtigen Leute falsche Aussagen geben können, dass du irgendwo irgendwas gebrüllt hast, dann habe ich es jetzt an mir selbst getestet: KÖNNEN SIE.“

Ich lebe in zwei Welten. Eine Welt besteht aus Leuten der „Veränderung“. Die andere besteht aus denen, die ihre Familie ernähren und Kredite abbezahlen müssen, für die ein Job und die Möglichkeit, was zu essen zu bekommen, schon Wohlstand bedeuten. Hauptsache es gibt keinen Krieg. Und deswegen schweigen sie. Das einzige, was diese zwei Realitäten gemeinsam haben, ist Depression und Angst. Es ist klar, dass man nicht ständig auf Messers Schneide stehen kann; man will leben, lieben, den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang genießen.

Ich gehe in die Stadt, alles ist ruhig, nichts passiert, ich lebe wie früher, arbeite, nur die Miliz meide ich wie Feinde. Selbst normale Polizeistreifen sehe ich schief an. In jedem Moment erwarte ich, das etwas passieren kann. Nicht, dass ich böse auf sie bin oder sie nicht respektiere. Aber die Miliz meines Landes beschützt mich nicht und ich habe vor ihr Angst.

Ein neues Wort aus dem belarusischen Wortschatz ist „Bussophobia“ – wenn neben dir ein unscheinbarer Minibus anhält. Genau in solche Fahrzeuge wurden die Demonstranten, die Verdächtigen, die Andersdenkenden reingepackt und an unbekannte Orte verschleppt. Ich fahre ja auch, davon gibt es viele in der Stadt, woher soll man wissen, wer da drin sitzt. Einmal blieb ich vor einer Ampel neben so einem Minibus stehen, dann sah mich der Fahrer an und hielt sein Handy ans Gesicht, und für eine Sekunde dachte ich, es wäre eine Pistole.

Wir schwanken zwischen Angst und Hass gegenüber der Situation. Niemand hatte erwartet, dass es so kommt. Und das schrecklichste ist, dass es immer noch nicht zu Ende geht. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Man liest die Nachrichten und kann nicht aufhören, zu staunen. Ich weiß nicht, wohin wir fliegen. Jedes Mal denke ich, dass es gar nicht mehr tiefer geht, aber das Tempo nimmt nur zu und der Schneeball wird immer größer.

P.S. Mehrfach vor der Verhaftung davongekommen

Autor: August2020 Projektteam

Foto: August2020 Projektteam

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